Pyrotechnik und dicht besetzte Ränge: Ein Stadion aufgenommen in Vogelperspektive.
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Ein Rammstein-Konzert 2023 im Wankdorf Stadion in Bern. Begeistertes Publikum, aller Vorwürfe zum Trotz.

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Pop 2023: Rammstein, Stones, Beatles und eine Entdeckung

Es sind bekannte Namen, die 2023 Musik und Debattenstoff lieferten. Till Lindemann und die Metoo-Debatte auf der einen, Taylor Swift und ihr Verkaufsgeschick auf der anderen Seite. Aber 2023 wurde in Berlin auch das Liedermacher-Geschäft neu belebt.

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Die Münchnerin Monika Marquart ist am 22. Mai 2023 mit ihrem Freund Jonas Stecher bei Rammstein in Vilnius gewesen. Den beiden hat es gut gefallen. "Vom Publikum her: Da waren Familien, die ihre Kinder auf der Schulter hatten, Männergruppen, alle in Rammstein-Shirts, am Bierstand stehend. Aber auch Paare. Alles durchmischt, einfach schön", sagt sie. Und Jonas Stecher schwärmt von der Pyro-Technik: "Wenn das erste Lied vorbei ist, es einen lauten Knall gibt und von sämtlichen Lautsprechertürmen Fahnen runterfallen mit dem Rammstein-Logo. Und diese erste Pyro-Attacke: Das fand ich sehr beeindruckend." Eins ist klar: Deutschlands bekannteste Rockband kann Stadionkonzert, die Show ist spektakulär.

Vorwürfe von Shelby Lynn gegen Lindemann

Drei Tage später, am 25. Mai, veröffentlicht die Nordirin Shelby Lynn schwere Vorwürfe auf Instagram und Twitter, die sich später als nicht beweisbar erweisen sollten: Sie sei in einer Konzertpause hinter die Bühne geführt worden, wo sie Rammstein-Sänger Till Lindemann traf. Er habe Sex gewollt, sie habe sich geweigert, Lindemann sei verbal aggressiv geworden, habe aber den Raum verlassen.

Am Morgen nach dem Konzert sei sie mit Hämatomen aufgewacht, weil sie – wie sie vermutete – mit Drogen betäubt worden sei. Die Staatsanwaltschaft in Vilnius geht den Anschuldigungen nach, stellt aber, da keine Anzeige gestellt wurde und keinerlei Beweise vorliegen, die Ermittlungen ein.

Zwischen Row Zero und Suck Room

In den Zeitungsartikeln, die daraufhin erscheinen, wird ein System erkennbar, wie sich Sänger Lindemann bei Konzerten Frauen zuführen ließ. Von der Row Zero, dem Fotografengraben, ist die Rede. Junge Frauen werden hierher eingeladen, um dem Star nahe zu sein. Vom "Suck Room" erzählen weibliche Fans, einem mit schwarzer Plastikfolie ausgeschlagenen Raum im Bühnenaufbau, der angeblich als Garderobe dient. Andere meinen, es sei eine Kammer für schnellen Sex.

Journalist Michael Fuchs Gamböck, der soeben seine Bandbiographie über Rammstein aktualisiert hat, kennt die Musiker, er hat sie mehrfach interviewt. Er sagt: "Ich hab mich halt gefragt: Wieso geht eine junge Frau in diesen Row Zero, danach noch hinter die Bühne zu den anderen und dann auch noch aufs Hotelzimmer? Was hat sie erwartet? Dame spielen, tiefsinnige Gespräche? Ich finde das nicht gut. Aber es ist deswegen keine Vergewaltigung, er ist nicht umsonst freigesprochen worden."

Stichwort: Victim-Blaming

Als Rammstein im Juni vier Konzerte im Münchner Olympiastadion spielen, hat die MeToo-Affäre den Höhepunkt erreicht. Fast täglich erscheinen weitere Aussagen junger Frauen, die in die Row Zero und zu After Show Parties eingeladen wurden. Diejenigen, die sich auf die Spezialparty von Lindemann einließen, erzählen Unschönes von Alkohol- und Drogenkonsum bis zur Bewusstlosigkeit, von hartem Sex und SM-Ambiente.

Rolling-Stone-Redakteurin Birgit Fuß hat eine klare Haltung, was derartige Vorwürfe angeht. Sie betont, dass man im Falle Rammstein nicht wisse, was passiert sei. Aber: "Was ich grundsätzlich sagen kann, ist: Es ist nie eine Frau selbst schuld, wenn sie angegriffen wird, sondern es ist immer derjenige schuld, der sie angreift. Immer. Und da kann man sagen, die Mädchen waren dumm, weil sie da hingegangen sind, die Mädchen hätten's besser wissen müssen, das ist völlig egal. Schuld ist immer derjenige, der angreift – ganz klar."

Skandal für Rammstein folgenlos?

Die Folgen der Affäre: Der Kiepenheuer & Witsch-Verlag distanziert sich vom Lyriker Till Lindemann, der im Kölner Verlag einen Gedichtband veröffentlicht hat. Die Plattenfirma Universal weigert sich, Lindemanns Solo-Album zu veröffentlichen. Kommt die Scheibe halt anderswo heraus.

War das alles nur ein Sturm im Whiskybecher, ein Orkan im Longdrink-Glas? Es ist zu keiner Gerichtsverhandlung gekommen, der Schlagzeuger Christoph Schneider hat sich via Instagram ein wenig distanziert vom Frontmann, ansonsten aber macht die Band weiter wie bisher, die nächsten Stadionkonzerte für 2024 sind bereits annonciert.

Die Münchnerin Monika Marquart, die auf dem Rammstein-Konzert in Vilnius dabei war, ist mittlerweile Mutter eines Kindes und sagt: "Ich würde nicht mehr hingehen. Dass die weiterhin auf Tour gehen, dass es die Band weiterhin gibt, find' ich in Ordnung. Muss dann auch jeder selbst wissen." Birgit Fuß vom Rolling Stone sieht das Dilemma aufseiten der Fans: "Mir tun die Fans auch leid, die das gern mochten und jetzt in einer moralischen Zwickmühle sind. Aber so ist es jetzt eben."

Neue Songs der Rolling Stones

Und dann gab es noch ein paar Herren, die für Schlagzeilen sorgten, diesmal aber positive: Die Rolling Stones veröffentlichten mit "Hackney Diamonds" ein heiß ersehntes Studioalbum mit neuen Songs. Vorausgegangen war eine ausgefuchste Marketing-Kampagne, die das öffentliche Interesse höchst virtuos anheizte.

Klar, dass die alten Gegenspieler der Stones da die Füße nicht stillhalten konnten. Die Beatles – und das heißt Paul McCartney, sekundiert von Ringo Starr – brachten eine letzte Single heraus, ein neues Lied, auf dem alle Fab Four zu hören sind. "Now And Then" hatte John Lennon noch in seinem Appartement auf einem Kassettenrekorder aufgenommen, jetzt konnte mithilfe von KI der Gesang der alten Aufnahme vom Klavier getrennt werden. Das Ergebnis ist ein Stück, das McCartney stark verändert hat: Teile des Songs wurden entfernt, Akkorde verändert. Lebendig und erfrischend klingt dieses Konstrukt zwar nicht, aber es verkauft sich – wen wundert's – hervorragend.

Wieder im Fokus: Taylor Swift

Außer den Lebensäußerungen mythischer Helden der Popkultur war 2023 wieder ein Erfolgsjahr für die US-Amerikanerin Taylor Swift. Die Sängerin wurde vom "Time"-Magazine zur "Person Of The Year" gekürt. Nicht wegen ihrer Musik, sondern weil sie die so geschickt vermarktet.

Taylor nahm alte Alben noch einmal auf und brachte sie erneut auf den Markt. Der Vertrag für die ersten Alben war ungünstig für sie ausgefallen. Ihre Eras-Tour ließ Swift filmen und brachte sie als Hochglanz-Konzert-Doku in die Kinos. So viel Geschäftssinn und Geschäftstüchtigkeit – das nötigte Respekt ab.

Hoffnung für Liedermacher: Tristan Brusch

Hierzulande sorgte der Berliner Tristan Brusch mit dem Album "Am Wahn" für die Rückkehr einer längst vergessenen Figur, nämlich die des Liedermachers. Brusch verwendet Klänge und Sounds, die Serge Gainsbourg und Tom Waits entwickelten und singt ohne Ironie über ernste Themen, von einem Krebskranken beispielsweise, der sich am Sonnenlicht erfreut.

Moral, Ernsthaftigkeit und Realitätsprinzip vs. post-moderne Ironie. Das passt in unsere Zeit der Kriege und Krisen. Tristan Brusch – den Namen wird man sich merken müssen, das zumindest prophezeien wir hier mal.

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