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Propagandaeinsatz: Putin vor einem Bildschirm

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"Dem Untergang geweiht": Russen fordern mehr Redefreiheit

Selbst überzeugten Nationalisten wird Putins Zensur unheimlich. Wenn die Gesellschaft zum Schweigen gebracht werde, bedeute das nicht, das sie auch zu denken aufhöre, so ein maßgeblicher Militärblogger. Es herrsche "bedingungslose" Unterwürfigkeit.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Alexander Chodakowski war mal Minister für Staatssicherheit in der selbst ernannten "Volksrepublik" Donezk und gilt als fronterfahrener früherer Fallschirmjäger. Als gut informierter Militärblogger mit mehr als 600.000 Followern fällt er zunehmend mit Warnungen vor russischer Überheblichkeit auf. So bedauert er in seinem neuesten Blog, dass Russland die Chance verpasst habe, eine "Plattform für die öffentliche Aussprache über Stärken und Schwächen" aufzubauen. Es habe sich wohl aus einem "menschlichen Impuls" heraus die Devise durchgesetzt, besser zu allen wichtigen Angelegenheiten "den Mund zu halten". Als Soldat vertrete er jedoch den Standpunkt, dass nur eine "gewisse Offenheit" Russland erneuern könne. Er zeigte sich schockiert darüber, das selbst Amtsträger im russischen Verteidigungsministerium insgeheim den Krieg als "unpopulär" bezeichneten: "Ja, Krieg sollte grundsätzlich nicht populär sein. Er kann gerecht oder heilig sein, ist aber immer eine schreckliche Notwendigkeit. Generell muss man dabei immer mit der Gesellschaft zusammenarbeiten: Wenn sie schweigt, heißt das nicht, dass sie aufhört zu denken."

In einem TV-Interview mit dem populären Blog "WarGonzo" bezeichnete Chodakowski die Lage als "sehr fatal", weil seiner Meinung nach kein anderes Land Russland zu Hilfe eilen werde, auch nicht China. Moskau sei völlig auf sich allein gestellt.

"Hektik vor neuem Zusammenbruch"

Der nationalistische Blogger Maxim Kalaschnikow sieht es ähnlich pessimistisch: "Für die Russische Föderation liegen alle Voraussetzungen für eine zivilisatorische Niederlage vor. Egal, wie sehr man die Schrauben im Land anzieht, das Fehlen einer Vorstellung von der Zukunft ist zu einem der Gründe für die heutige unschöne Situation geworden." Der Kreml befasse sich nur noch mit der Vergangenheit, die die Russen allerdings nicht einige, sondern spalte: "Wenn Sie in der Gegenwart keine beeindruckenden Erfolge vorweisen können und kein strahlendes Bild von der Zukunft haben, interessiert sich niemand für Ihre Vergangenheit." Russland sei "dem Untergang geweiht", weil es keine Strategie habe, so Kalaschnikow. Der Krieg sei erstarrt wie die Fronten im Ersten Weltkrieg, Putin habe den "Kampf um die Köpfe und Herzen" der Ukrainer verloren: "Alles verkommt zu fruchtlosem Getue. Es ist die Hektik vor einem neuen Zusammenbruch."

Derweil nimmt die Debatte um den geschassten Außenpolitik-Experten Valery Garbusow weiter Fahrt auf. Der Leiter der Amerika-Abteilung an der Russischen Akademie der Wissenschaften hatte genau das formuliert, was auch Maxim Kalaschnikow umtreibt: Russland sei in seiner eigenen Vergangenheit gefangen. Die unmittelbare Folge war Garbusows Rauswurf, der allerdings zahlreiche, vom Kreml sicherlich nicht beabsichtigte Reaktionen provozierte. Nicht wenige Beobachter lobten den Experten für seine Zivilcourage. So schrieb Andrej Kolesnikow für die russische Ausgabe des Wirtschaftsmagazins "Forbes": "Valery Garbusow ist ein seltenes Beispiel nicht nur für Mut, sondern vor allem für Verantwortung für die Ergebnisse seiner eigenen Arbeit, insbesondere im bedingungslos unterwürfigen Umfeld außenpolitischer Experten. Das heißt, es ist ein professionelles Vorgehen, es ist ein intelligentes Vorgehen."

"Tod des postsowjetischen Intellektuellen"

Kolesnikow forderte seine Leser auf, sich vorzustellen, dass sich die "gesamte russische Intelligenz oder zumindest die wissenschaftliche und pädagogische russische Intelligenz wie Garbusow" verhielte: "Wahrscheinlich würde sich etwas in unserer Gesellschaft und sogar im System der staatlichen Entscheidungsfindung zum Besseren verändern. Aber nichts davon ist passiert und wird auch nie passieren. Denn was geschah, war das, was der Literaturkritiker Arkadi Belinkow (1921 - 1970) vor etwa einem halben Jahrhundert die 'Kapitulation und den Tod des sowjetischen Intellektuellen' nannte. Nun haben die 'Kapitulation und der Tod' des postsowjetischen Intellektuellen stattgefunden."

Nur noch Spott hat ein Blogger aus Pskow mit knapp 500.000 Fans für die Maulkorb-Politik des Kremls übrig: "Die Erde ist rund, schreibt Garbusow. In seinem Artikel sind die Vereinigten Staaten der Hegemon, China hat sein Haupt erhoben und Russland hat es demgegenüber schwer und viele innenpolitische Probleme. Was stimmt hier nicht? Aber offenbar braucht das moderne Russland keine Grundlagenwissenschaft und kompetente Analytik, wenn sie nicht in die 'Generallinie der Partei' passen. Wir stürzen uns wieder in die Zeiten der einzig richtigen Sichtweise."

"Sollten wir nicht Fehler vermeiden?"

Dmitri Michailitschenko pflichtete dem eingangs erwähnten Ex-Soldaten Chodakowski bei, was die russische "Schweigespirale" betrifft: "Garbusow sagte, was viele Leute hinter vorgehaltener Hand sagen, und brachte seine zivile und wissenschaftliche Position zum Ausdruck, aber eine solche (wenn auch ziemlich laute) Stimme kann mit einer einzelnen Mahnwache vor jeglicher Behörde verglichen werden. Diese Stimme wurde von vielen politisierten Menschen gehört und diskutiert, wird aber bald vergessen sein. Diese Form des politischen Ausdrucks wird keine systematische Fortsetzung finden: Die Akteure, die sie unterstützen, ziehen es vor, innerhalb des Landes Stillschweigen zu bewahren."

Dass sich Gedanken durch Rede- und Publikationsverbote nicht aus der Welt schaffen lassen, darauf wies Michail Gurewitsch von der liberalen russischen Wirtschaftszeitung "Kommersant" hin: "Wenn Garbusow durch eine loyalere Person ersetzt wird, wird die Analyse der Ereignisse in Washington dann angemessen und vor allem nicht opportunistisch sein? Sollten wir in den Beziehungen zu diesem wichtigen geopolitischen Akteur nicht Fehler vermeiden, die auf falschen Annahmen und daraus resultierenden, vom Hass getriebenen Einstellungen beruhen?" Solche Konflikte würden in Russland zwar gewöhnlich unter Ausschluss der Öffentlichkeit beigelegt, es sei jedoch gut, dass die Aufmerksamkeit diesmal größer gewesen sei, denn Moskau habe mehrfach bewiesen, "interne Geschehnisse in der Ukraine" weder ausreichend studiert, noch verstanden zu haben.

Der als "ausländischer Agent" gebrandmarkte Blogger und Politologe Wladislaw Inosemtsew schrieb, um Russland einen Weg in die Zukunft zu bahnen, seien "flexiblere Menschen" erforderlich als die jetzigen Ideologen im Kreml.

"Wir brauchen Soldaten!"

Der Frust unter russischen Militärbloggern über die mangelnde Selbstkritik wächst auch deshalb, weil es von der Front derzeit aus ihrer Sicht nicht viel Positives zu berichten gibt: "Was vor anderthalb Jahren wie ein Albtraum erschien und wilde Resonanz hervorgerufen hätte, zum Beispiel ein Drohnenangriff auf den Kreml, wird heute als etwas ganz Normales wahrgenommen. Ich weiß noch nicht, ob das gut oder schlecht ist", rätselte einer der ultrapatriotischen Kommentatoren.

Bei einem weiteren waren desaströse Nachrichten von der Südfront zu lesen. Die ukrainischen Truppen würden "stürmen wie verrückt" und haufenweise Streumunition einsetzen: "Wir können nicht mal mehr den Kopf heben." Es drohten Durchbrüche an entscheidenden Stellen: "Unsere Linie wird von äußerst widerstandsfähigen Einheiten gehalten. Leider reichen sie nicht aus. Der Feind passierte an einigen Stellen die 1. Linie der [russischen] Surowikin-Festung." Die Ukraine verfüge über die deutlich bessere Artillerie und leide offenbar nicht unter Munitions- und Personalmangel, während sich auf russischer Seite die Reihen erheblich lichteten: "Wir brauchen Soldaten! Die Ausrüstung ist da, aber die Leute sind schlecht." Gemessen an solchen Alarmmeldungen von der Front erscheint Putins neueste Aussage, die ukrainische Gegenoffensive sei nicht etwa "aus Versehen" in Schwierigkeiten, sondern ein kompletter Fehlschlag, einigermaßen gewagt.

Andrej Kolesnikow, der für seine Ironie bekannte Korrespondent des "Kommersant", bemerkte dazu: "Putin macht es offensichtlich keine Sorgen, dass die Ukraine seit mehreren Tagen den Durchbruch der ersten russischen Verteidigungslinie feiert. Ja, anscheinend lässt er sich von der Wahrheit nicht irritieren. Bedeutet das, dass es sie nicht gibt?"

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