Porträt des Wissenschaftlers
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Valery Garbusow

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Nach Rauswurf: Ex-Kremlberater nennt Ultra-Patrioten "Patienten"

Es ist ein Frontalangriff auf den Kreml: Der geschasste Ex-Chef des Instituts für Nordamerika an der Russischen Akademie der Wissenschaften, Valery Garbusow, wirft russischen Nationalisten ein "verzerrtes Weltbild" vor und wünscht "gute Genesung".

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Mit seiner General-Abrechnung löste er eine wilde Debatte aus: Valery Garbusow hatte in der russischen Zeitung "Nesawissimaja Gazeta" den eigenen Nationalisten "pseudopatriotische Raserei" vorgeworfen und klargestellt, dass Russland weder mit den USA, noch mit China auf Augenhöhe sei. Putins Regime verbarrikadiere sich hinter rückwärtsgewandten Mythologien. Deswegen war Garbusow innerhalb von drei Tagen als Leiter des Instituts für Nordamerika bei der Russischen Akademie der Wissenschaften entlassen worden. Zahlreiche Beschimpfungen aus dem rechten Lager waren die Folge. Jetzt legte der offenbar unerschrockene Wissenschaftler abermals in der "Nesawissimaja Gazeta" nach. Er verwies darauf, dass "moderne, falsche Patrioten" an "geheime Verschwörungen" glaubten und sein ehemaliges Institut für ein "Nest ausländischer Geheimdienste" hielten: "Man sagt, dass Patienten, die unter bestimmten Störungen leiden, besonders wenn sie eine pseudopatriotische Toga tragen, so denken. Ich wünsche ihnen Genesung. Sie können mich jederzeit kontaktieren!"

"Klassische Goebbels-Propaganda"

Garbusow hält den Wirbel um seine Person für eine "erbärmliche und abscheuliche Orgie" und dankte seinen Unterstützern. Für etwa eine Stunde war auf der Website der "Nesawissimaja Gazeta" eine Stellungnahme des "Teams" des Moskauer Nordamerika-Instituts zu lesen, worin von einer "Verleumdungskampagne" gegen Garbusow die Rede war. Dem kremltreuen TV-Moderator Wladimir Solowjow wurden darin "komplette Lügen" und "klassische Goebbels-Propaganda" vorgeworfen, die einen "äußerst erbärmlichen Eindruck" hinterließen. Der russischen Amerikanistik solle ein "Schlag versetzt" werden, um sie zu "diskreditieren". Diese wütende Solidaritätsadresse wurde dann zügig gelöscht, ist aber im Google-Webcache noch verfügbar.

"Seien Sie nicht faul und lesen Sie"

Garbusow selbst warf dem TV-Hassprediger ebenfalls "aggressive Propaganda und primitive Lügen" vor. Solowjow hatte vermeintlich "sehr offensichtliche Fragen" gestellt, etwa nach einer "Buchprüfung" in Garbusows Institut, ob der Experte "noch andere Werke" ähnlichen Inhalts geschrieben habe oder ob der Text eine "plötzliche Offenbarung" sei. Dazu bemerkte Garbusow: "Die in dem Artikel vorgestellten Ideen sind nicht neu. Sie sind in Hunderten von wissenschaftlichen Werken enthalten, die bereits zuvor von einheimischen Historikern, Politikwissenschaftlern und Soziologen veröffentlicht wurden. Seien Sie nicht faul und lesen Sie sie!"

"Sogar Schulkinder wissen das"

Eine offene und kontroverse Auseinandersetzung sei "Sauerstoff für Geschichte und Politikwissenschaft, Psychologie und Philosophie, Soziologie und Literatur" und fördere neue Ideen und Konzepte. Garbusow bekräftigte, die sowjetischen und russischen Behörden hätten mit allerlei Mythen zu einem vielfach "verzerrten Weltbild" beigetragen: "Das Hauptanliegen meines Artikels war es darzulegen, dass die zu verschiedenen Zeiten entstandenen und in das öffentliche Massenbewusstsein eingeführten Mythen zusammen mit anderen Faktoren zu einer vorübergehenden Stabilisierung der derzeitigen Regierung beitragen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen."

Er bezeichnete antiwestliche Emotionen als "sehr ernste und sogar sehr gefährliche Krankheit". Immerhin habe sich Russland bereits unter Zar Peter dem Großen nach Westen orientiert: "Sogar die Schulkinder unseres riesigen Vaterlandes wissen das." Die russische Verfassung sei nach amerikanischem Vorbild zu Papier gebracht worden, auch das Präsidialsystem sei dem in Washington nachgebildet: "Von nun an wird niemand mehr in der Lage sein, den westlichen Einfluss auszurotten, ihn unter den Teppich zu rollen, die Bestandteile der westlichen Kultur und Lebensart einzubetonieren (ich verwende das unschuldigste Vokabular, das in Fernseh-Talkshows verwendet wird). Ebenso wenig wird es möglich sein, die russische Kultur aus dem Westen zu eliminieren, wo russische Werke in großer Zahl präsent sind." Es sei zu viel Zeit vergangen, um die Entwicklung rückgängig zu machen: "Der historische Prozess, der einen fortschrittlichen Charakter hat, ist bekanntlich unumkehrbar."

"Mit Mottenkugeln behängtes Drehbuch"

Aufgrund "banaler" Gesetze werde für Russland auch wieder eine "andere Zeit" kommen: "Die Evolution ist überall unvermeidlich, auch in diesem Bereich - ich hoffe, das ist kein rebellischer Gedanke." Garbusow beschwerte sich darüber, dass seine Heimatstadt Pskow im russischen Fernsehen in "taktloser und inakzeptabler Weise" geschmäht worden sei: "Meine Biografie, die durch enge Beziehungen zu den Städten Pskow und St. Petersburg (die ich regelmäßig besuche) geprägt ist, steht in keiner Verbindung zu NATO-Ländern." Er habe nicht zum "Sturz der Regierung" aufgerufen, so Garbusow, und sei auch noch nie vom Geheimdienst behelligt worden. Er werde Russland unter "keinen Umständen" verlassen. Gerüchte, wonach er "Millionen" veruntreut habe und sich auf der Flucht in den Westen befinde, seien "absurd" und stammten "aus einem mittelmäßig geschriebenen, mit muffigen Mottenkugeln behängtem Drehbuch, das offenbar für engstirnige Landsleute gedacht" sei.

"Loyale Zeitgenossen in Oppositionelle verwandelt"

Bereits Minuten, nachdem Garbusow seine erneute Abrechnung veröffentlicht hatte, entbrannte eine heftige Auseinandersetzung: "Der neue Artikel von Valery Garbusow (heute nur noch ein amerikanischer Gelehrter ohne Amt) zeigt, dass unsere Regierung immer noch sehr gut darin ist, loyale Zeitgenossen in überzeugte Oppositionelle zu verwandeln", hieß es in einem Blog. Ironisch wird dort darauf hingewiesen, dass die Ultra-Patrioten Garbusow wegen dessen Fulbright-Stipendium angegriffen hätten. Doch bei näherer Untersuchung der Karriere russischer Politiker komme gerade dazu "viel Interessantes" ans Licht: "Viele Absolventen dieser Programme bekleiden heute sehr hohe Machtpositionen."

Einer der rechten Blogger wetterte dagegen: "In unserer Elite gibt es eine ganze Reihe von Einflussagenten, die sich ihrer eigenen ideologischen Prägung oft nicht einmal bewusst sind oder diese geschickt verschleiern. Es gibt viele solcher Garbusows, einige haben sich einfach versteckt und lauern in den Startlöchern." Der neue Text des Politologen sei "viel härter als der ursprüngliche, eher banale Artikel", urteilte ein Beobachter: "Allerdings kann es in unserem Land bereits als Herausforderung für das System gelten, andere nicht anzukläffen und vergleichsweise gelassen zu denken."

Der kremlnahe Politologe Sergej Markow schrieb: "Generell ist es falsch, Wissenschaftler wegen ihrer Texte zu entlassen. Aber Valery Garbusow wurde ja nicht als Wissenschaftler geschasst, sondern von der Position des Direktors des Instituts für die USA und Kanada entfernt. Diese Einrichtung ​​​​wurde vom Staat (zuerst von der Sowjetunion und jetzt von Russland finanziert) mit dem Hauptziel gegründet, Russland durch seine Analysen dabei zu helfen, eine richtige und erfolgreiche Politik gegenüber den Vereinigten Staaten und Kanada zu verfolgen."

Soziologin Maria Fil bedauerte, es sei leider sehr selten, "Geisteswissenschaftler mit patriotischen Ansichten" zu treffen: "Ich schließe nicht aus, dass der Autor die Konsequenzen seines Artikels in der Presse vollkommen richtig eingeschätzt hat, aber sich dennoch 'ins Knie geschossen' und die Interessen einer ganz offensichtlichen und mächtigen Lobbygruppe zum Ausdruck gebracht hat, die vor allem Informationen an die Öffentlichkeit bringen will, die auf die Inhaber höherer Ämter zielen."

"Verfassung oder Stör mit Meerrettich"

Der pensionierte Geheimdienstoffizier Sergej Krapak gab Garbusow teilweise recht: "Die Geschichte der Integration Russlands in den Westen begann lange vor Peter dem Großen, aber er wurde zum Beschleuniger dieses Prozesses, indem er erst ein Fenster nach Europa öffnete und dann die Tür weit aufstieß. Selbst durch aggressive Propaganda kann ein solcher Einfluss nicht innerhalb weniger Jahre rückgängig gemacht werden. Das Problem ist, dass keiner der Entscheidungsträger genau weiß, welches Konzept folgen soll: Orthodoxie/Autokratie/Nation oder Freiheit/Gleichheit/Brüderlichkeit." Solange das nicht entschieden sei, halte sich Russland offenbar an ein Zitat des Satire-Klassikers Saltykow-Schchedrin, einem Experten für "autokratisch-bürokratische Realität". Der hatte mal geschrieben: "Ich wollte durchaus etwas: entweder eine Verfassung oder einen Sternstör mit Meerrettich oder jemanden übers Ohr hauen."

Soziologe Alexej Firsow stellte fest, dass nicht alle Wähler Putins dessen "Prophezeiungen über den künftigen Triumph Russlands" Glauben schenkten: "Aber im Weltszenario sollte die Gesellschaft das Gefühl haben, dass nicht alles umsonst war, dass sich die globalen Verhältnisse verändert haben, Russland nicht nur von den Knien aufgestanden ist, sondern auch auf Augenhöhe spricht." Der von den Rechtsnationalisten propagierte "Daseinskampf" gegen den Westen sei dem Durchschnittsrussen dagegen "fremd" und der Elite umso mehr: "Höchstwahrscheinlich werden sie früher oder später nach einer solchen Einigungsformel suchen. Ich denke gegen Ende des Jahres."

Putin: "Geschichte Waffe im ideologischen Kampf"

Putin selbst sprach online bei einer Tagung des russischen Organisationskomitees "Sieg" und geißelte bei der Gelegenheit Europa, wo "viele Menschen ihr Gedächtnis und ihr Gewissen völlig verloren" hätten. Ohne konkrete Personen zu nennen, schimpfte der Präsident auf Leute, die sich "mit der Vergangenheit im Kriegszustand" befänden und absichtlich die Geschichte verzerrten. Als ob er auf Garbusow und dessen Unterstützer zielte, sagte Putin: "Darüber hinaus wird die Geschichte zunehmend als Waffe im ideologischen Kampf eingesetzt, und wir brauchen ein angemessenes Verteidigungsinstrument, das solche Angriffe nicht nur abwehren, sondern auch verhindern kann."

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