Der Journalist bei einem Auftritt vor der Presse am 8. Juni 2023
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Friedensnobelpreisträger Dmitri Muratow

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"Düstere Schande": Kreml straft Nobelpreisträger Muratow ab

Seit dem 1. September gilt Dmitri Muratow, Chefredakteur der oppositionellen "Novaya Gazeta" und Friedensnobelpreisträger von 2021, als "ausländischer Agent". Grund dafür sei seine "negative Haltung" zur russischen Innen- und Außenpolitik.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Es ist ein groteskes Ritual: Jeden Freitag verlängert sich das Verzeichnis der "ausländischen Agenten" beim russischen Justizministerium. Wöchentlich wird diese "schwarze Liste" der echten und vermeintlichen Regimegegner "aktualisiert". Seit Anfang September findet sich nun auch einer der prominentesten Putin-Kritiker unter den offiziell genannten Namen: Dmitri Muratow, unerschrockener Publizist, ehemals Chefredakteur der inzwischen in Russland verbotenen "Novaya Gazeta" und Friedensnobelpreisträger von 2021.

"Materialien an unbegrenzten Personenkreis"

Das Nobelkomitee hatte damals in der Begründung zur Preisverleihung geschrieben, der Journalist habe sich um die "Wahrung der Meinungsfreiheit" verdient gemacht, die eine "Voraussetzung für Demokratie und dauerhaften Frieden" sei: "Unter der Führung von Herrn Muratow hat die Novaja Gazeta die russischen Behörden wegen Korruption, Wahlbetrug und Menschenrechtsverletzungen kritisiert. Sechs Journalisten der Zeitung wurden ermordet, weil sie kritische Artikel über russische Militäreinsätze in Tschetschenien und im Kaukasus geschrieben hatten. Die bekannteste von ihnen ist Anna Politkowskaja. Als Chefredakteur hat Herr Muratow mehrfach die Annexion der Krim durch Russland im Jahr 2014 und den Einsatz militärischer Gewalt durch die Regierung sowohl innerhalb als auch außerhalb Russlands kritisiert."

Zwar wird Muratow vom Kreml jetzt als "ausländischer Agent" bezeichnet, doch in der Begründung des Justizministeriums findet sich nach Angaben des oppositionellen Portals "Agents" kein Wort über Zahlungen aus dem Ausland an den Publizisten. Vielmehr wird er wegen seiner politischen Einstellung gebrandmarkt: "Dmitri Andrejewitsch Muratow beteiligte sich an der Erstellung und Verbreitung von Botschaften und Materialien ausländischer Agenten an einen unbegrenzten Personenkreis und nutzte ausländische Plattformen, um Meinungen zu verbreiten, die darauf abzielten, eine negative Haltung gegenüber der Außen- und Innenpolitik der Russischen Föderation zu bilden."

Putin: "Wir kümmern uns darum"

Muratow hatte sich getraut, Präsident Putin direkt auf das dubiose Gesetz über "ausländische Agenten" anzusprechen. Es sehe keinerlei gerichtliche Überprüfung vor, so der Journalist, eine Beweisführung sei ebensowenig möglich wie eine Anfechtung. Es handle sich vielmehr um ein "Stigma". Es sei schier unmöglich, es wieder abzuschütteln: "Mir scheint, dass wir uns damit befassen müssen." Putin hatte geantwortet, das Gesetz verbiete ja nicht die "weitere politische Aktivität".

Die russische Gesellschaft müsse einfach nur wissen, dass eine bestimmte Person "Geld aus dem Ausland" erhalte: "Darauf hat die russische Gesellschaft einen Anspruch." Allerdings hatte Putin versprochen, sich die "vagen Kriterien" noch einmal anzusehen: "Es passiert selten, aber ich weiß, dass es passiert, und sogar meine persönlichen Bekannten sagten mir, dass sie sich an der einen oder anderen Wohltätigkeitsaktivität beteiligt haben und bereits dafür als ausländischer Agent geführt werden. Vielen Dank, dass Sie mich darauf noch einmal aufmerksam gemacht haben. Wir kümmern uns darum."

Am 1. September beginnt in Russland das neue Schuljahr, deshalb wird der Tag auch der Bildung gewidmet. Putin selbst hielt vor dreißig Schülern eine "vaterländische" Unterrichtsstunde ab. Darauf anspielend, sagte Muratow der russischen Wirtschaftszeitung RBC: "Leider habe ich am Tag des Wissens nichts Neues gelernt." Putin hatte nach der Nobelpreisverleihung 2021 gedroht, Muratow dürfe seine Auszeichnung nicht als "Schutzschild" vor sich her tragen. Wenn er absichtlich "Aufmerksamkeit errege" und russische Gesetze verletze, werde er entsprechend bestraft.

"Provinzieller Charakter des Regimes"

Bloggerin Arina Borodina schrieb entsetzt: "Es ist eine Art düstere Schande, den Friedensnobelpreisträger (!), einen der freundlichsten Helfer und einen der würdigsten Journalisten, den Chefredakteur der Novaja Gazeta, Dmitri Muratow, zum ausländischen Agenten zu machen und abzustempeln." Dagegen wollte der rechtsextremistische "Philosoph" und Propagandist Alexander Dugin die Bezeichnung "ausländischer Agent" als "letzte Warnung" vor dem Wegsperren verstanden wissen. Der Kreml-Propagandist und "Politologe" Sergej Markow bemerkte sarkastisch, der Friedensnobelpreis werde "mittlerweile nicht mehr für den Frieden" verliehen. Markow stellte in Frage, ob Muratow noch "Patriot" sei.

Mit fast 500.000 Fans eines der größten Telegramm-Portale, "Russland kurzgefasst", schrieb bitter: "Die Erlangung des Status eines ausländischen Agenten durch den russischen Friedensnobelpreisträger Muratow zeigt einmal mehr den provinziellen Charakter des politischen Regimes in Russland. Die Provinz der Welt demonstriert in der Zirkusarena erneut ihr gänzlich unnötiges Ego."

"Bereit, Nobelpreisträger hinter Gitter zu bringen"

In den Leser-Kommentaren russischer Zeitungen wie "Fontanka" wurde bemerkt, dass sich die wahre Größe eines Landes weniger an der geografischen Ausdehnung als an der Zahl der Nobelpreise ablesen lasse. Demnach wurden rund 400 Nobelpreisträger in den USA geboren, nur 32 in der UdSSR oder Russland. In Deutschland übrigens 111 (Platz drei). Wie mit Muratow umgegangen werde, das sei eine "Schande wie in Nordkorea", wurde geschimpft: "In unserem eigenen Land ist das Unmögliche möglich. In unserem Land sind sie bereit, Nobelpreisträger hinter Gitter zu bringen, wenn sie das Regime bedrohen." Ein Leser wagte die nicht näher erläuterte Prognose: "Das Ende rückt näher."

Das liberale Wirtschaftsblatt "Kommersant" verwies darauf, dass von den insgesamt neun neu genannten "ausländischen Agenten" nur Muratow in Russland lebe, die übrigen, darunter Schriftsteller, Ex-Politiker und Journalisten, seien emigriert. Eine aktuelle Umfrage hatte ergeben, dass die Russen "ausländische Agenten" mehrheitlich nicht als Gefahr für den Staat sehen. Im Gegenteil: Weniger als dreißig Prozent halten sie für "Verräter", nur zwölf Prozent für "schlechte Menschen". Hauptsächlich Ältere glaubten der Propaganda und sähen in den Betroffenen "Volksfeinde".

Die "Novaya Gazeta", die von Muratow geleitet wurde, stellte das Erscheinen kurz nach Kriegsbeginn im März 2022 ein, nachdem die Zensurbehörde bemängelt hatte, dass zwei dort zitierte "ausländische Agenten" nicht als solche bezeichnet worden seien. Ende Juli 2022 forderte die Behörde den Entzug der Lizenz, weil die Redaktion angeblich eine Frist versäumte, um ihr "Statut" zur Genehmigung vorzulegen. Am 15. September hatte der Oberste Gerichtshof Russlands den Lizenz-Entzug, wie zuvor bereits untere Instanzen, bestätigt. Im Ausland erscheint seitdem die "Novaya Gazeta Europe".

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