Uniformierte legen Blumen nieder zum 80. Jahrestag der Befreiung.
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Historisches Erinnern in Rostow am Don

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Kreml-Berater: "Russland Geisel seines imperialen Komplexes"

Mit seltener Unerschrockenheit rechnet Valery Garbusow von der Russischen Akademie der Wissenschaften mit seiner Heimat ab: Das Land sei "instabil" und werde nur von der "Sehnsucht nach verlorener Größe" zusammengehalten: "Beschämend und demütigend".

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Ist Russland ein Fall für den Psychiater? Das legt der russische Historiker und Politologe Valery Garbusow in einem Beitrag für die vorsichtig regimekritische "Nesawissimaja Gazeta" nahe: "Russland hat seine eigene – besondere – Umlaufbahn. Als Haupterbe der sowjetischen Supermacht, die auf den Ruinen des Russischen Reiches errichtet wurde, wurde es zur Geisel seines eigenen imperialen Komplexes. Genau das erklärt sein aktuelles außenpolitisches Verhalten und die Probleme, die es für die Welt mit sich bringt." Der Chef des Instituts für Nordamerika an der Russischen Akademie der Wissenschaften stellt dem Putin-Regime ein bemerkenswert schlechtes Zeugnis aus. Schon die Überschrift lässt wenig Zweifel am kritischen Inhalt: "Russland braucht zur Selbsterkenntnis Wissen, keine Mythen".

Ausführlich befasst sich Garbusow, der laut Biografie sowohl den Kreml, als auch das russische Außenministerium berät und Mitglied im "Russian Council" ist, der Interessenvertretung der russischen Diplomaten, mit dem Niedergang von Großmächten im Allgemeinen und Russland im Besonderen. Er bescheinigt seinem Heimatland eine Art "posttraumatische Belastungsstörung". So schreibt er: "Russland ist ein ehemaliges Imperium, Erbe der sowjetischen Supermacht, ein Land, das ein äußerst schmerzhaftes Syndrom plötzlich verlorener imperialer Größe durchlebt."

"Syndrom wurde bedrohlich"

Das sei eher "tragisch" als ungewöhnlich, so der Forscher: "Seine Besonderheit besteht darin, dass es nicht unmittelbar nach dem Zusammenbruch der UdSSR im Jahr 1991 auftrat, sondern sich erst viel später bemerkbar machte, als Putin an die Macht kam. Nach mehr als dreißig Jahren wurde das mit zeitlicher Verzögerung auffällig gewordene Syndrom bedrohlich, dessen möglicher Ursache bisher keine große Beachtung geschenkt wurde." Länder wie Großbritannien und Frankreich hätten es geschafft, sich nach dem Untergang ihrer Kolonialreiche an eine "grundlegend neue Lage anzupassen". Dazu sei Russland offenbar zu "instabil". Es flüchte sich in "aggressiven Antiamerikanismus" und nehme den Kampf gegen einen angeblich im Verfall begriffenen Westen auf. Das alles hatte Garbusow auch schon in einem Interview mit der Nachrichtenagentur Interfax im April dieses Jahres gesagt, allerdings in einem deutlich weniger scharfen Ton.

"Russland stürzt in Welt der Illusionen"

Jetzt kritisierte er mit seltener Offenheit Putins "Staatsmythologie", die offenbar als "antiwestliche Lokomotive" dienen solle: "Der Zweck all dessen liegt auf der Hand: die eigene Gesellschaft in eine Welt der Illusionen zu stürzen, begleitet von Großmacht- und patriotischer Rhetorik, unverhüllter und bewusster unbefristeter Machterhaltung um jeden Preis, Erhaltung des politischen Regimes durch die gegenwärtig herrschende Elite und die darin integrierte Oligarchie." Die gegenwärtigen "Günstlinge des autoritären Systems" setzten mit "rührender Zärtlichkeit" das Staatsoberhaupt mit dem Staat selbst gleich, wie einst die Satrapen des Alten Orients. Das bezeichnete der Experte in seinem Fazit als "beschämend und demütigend".

Putins Bemühungen, zusammen mit China und Ländern des globalen Südens eine antiamerikanische Allianz zu schaffen, werde "wahrscheinlich nicht zum Erfolg" führen: "Die Interessen der meisten Staaten der Welt sind zu sehr in die amerikanischen eingebunden, wodurch eine strategische gegenseitige Abhängigkeit zwischen ihnen entsteht, die sie vor jedem aggressiven Antiamerikanismus zurückschrecken lässt."

"Gut bezahlte politische Manipulatoren"

Den russischen TV-Propagandisten bescheinigte Garbusow eine "pseudopatriotische Raserei". Die neuen Mythen, mit denen die Bevölkerung staatlicherseits behelligt werde, beständen aus "Naivität und Gedankenlosigkeit": "Diese Mythen werden Tag und Nacht von einer neuen Generation gut bezahlter professioneller politischer Manipulatoren und zahlreichen Fernseh-Talkshow-Moderatoren verbreitet."

Der "konservative Klebstoff", mit dem Putins Herrschaft zusammengehalten werde, erinnert Garbusow an das frühe 19. Jahrhundert: "In gewisser Weise ähnelt dieses Sammelsurium den antiwestlichen ideologischen Vorstellungen von vor fast 200 Jahren – der 'Theorie der offiziellen Volkstümlichkeit' des Grafen Sergej Uwarow (1786 - 1855), des ständigen Präsidenten der Kaiserlich Russischen Akademie der Wissenschaften und langjährigen nebenamtlichen Ministers für Volksbildung. Sein Dreiklang 'Orthodoxie, Autokratie, Nationalität' war die ideologische Verkörperung des russischen Monarchismus, der zusammen mit der orthodoxen Kirche und der durch die Unterstützung des Volkes gesicherten Autokratie angeblich als verlässlicher Garant für die Existenz und Größe Russlands diente."

"Massive Manipulation des Bewusstseins"

Rückblickend meint Garbusow, bestimmte Propaganda-Mechanismen seien im Hochmittelalter bei der Gründung der Kiewer Rus ebenso wirksam gewesen wie zur Zeit Iwans des Schrecklichen oder Peters des Großen: "Oftmals haben die herrschenden Eliten autoritärer und totalitärer politischer Regime bewusst utopische Ideen und Mythen entwickelt und gezielt unter die Massen gestreut. Eine solche massive Manipulation des Bewusstseins der Gesellschaft führt sofort zu einem utopischen Bild der Wahrnehmung der Welt bei Millionen von Menschen und ermöglicht es, unterschiedliche politische und soziale Gruppen im Namen eines bestimmten Ziels um einen nationalen Führer zu scharen. Es ist jedoch auch ein wirksames Instrument zur langfristigen Erhaltung persönlicher Macht. Und die russische Geschichte ist keine Ausnahme."

"Regierung heiligt unerreichbare Zukunft"

Die Äußerungen von Garbusow sind gemessen an westlichen Maßstäben nicht sonderlich originell. Sie werden von zahlreichen Russland-Experten mehr oder weniger geteilt. Dass sie allerdings in einem russischen Blatt zu lesen sind, ist bemerkenswert. Exil-Journalist Witali Ginsburg, bemerkte erst kürzlich, in Russland sei "alles irrational", das werde von der Obrigkeit genutzt, "um der Realität auszuweichen". Ähnlich wie Garbusow schrieb er: "Die russische Regierung heiligt die Zukunft, und zwar eine unerreichbare, und baut die Vorstellungen von ihr auf den Fundamenten historischer Rekonstruktionen." Mit anderen Worten: Die Zukunft wäre nach russischen Maßstäben eine grotesk glorifizierte Vergangenheit. Leider sei allerdings auch der inhaftierte Oppositionspolitiker Alexej Nawalny seiner Meinung nach nicht bereit, "Illusionen aufzugeben", so Ginsburg.

"Sabotage gegen russische Kultur"

Zu den derzeit in Russland am meisten diskutierten Maßnahmen, Propaganda-Mythen zu verbreiten, gehört die "Überarbeitung" der Schulbücher. Exilmedien machten sich bereits mit Ratespielen lustig über die neuen ideologischen "Wahrheiten". Allerdings fiel auf, dass der Kreml bei den neuen Prüfungsordnungen nicht nur die "ruhmreiche" Vergangenheit abfragen lässt: Literarische Klassiker wie Alexander Puschkin, Michail Lermontow, Nikolai Gogol sollen demnach kein Examensstoff mehr sein und gegen moderne "patriotische" Autoren und stalinistische Romane wie "Die junge Garde" ersetzt werden: "Die Empörung der Sprachlehrer aus dem ganzen Land ist schwer in Worte zu fassen, das ist eine Art Sabotage gegen die russische Kultur", schimpfte eine russische Gymnasiallehrerin in der "Moscow Times".

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