Vor dem ehemaligen Hauptquartier in St. Petersburg
Bildrechte: Stringer/Picture Alliance

Wagner-Aufnäher zwischen roten Nelken

Per Mail sharen
Artikel mit Audio-InhaltenAudiobeitrag

"Lage ist extrem schwierig": Verlassen Wagner-Söldner Russland?

Die Zukunft der ehemals kampfstarken Privatarmee des verstorbenen Oligarchen Jewgeni Prigoschin ist äußerst ungewiss. Inzwischen kursieren in der Truppe Aufrufe, neue Jobs in Afrika und im Nahen Osten zu suchen: "Sie lassen uns nicht an die Front."

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Eines muss man den verbliebenen Söldnern der Wagner-Truppe lassen: Sie verstehen etwas von PR. So veröffentlichten sie jüngst ein kurzes Video, das angeblich wenige Tage vor Jewgeni Prigoschins Tod in Afrika aufgenommen worden sein soll. Darin sagt der bei einem ungeklärten Flugzeugabsturz ums Leben gekommene Privatarmee-Betreiber: "Für diejenigen, die gerade darüber streiten, ob ich noch lebe oder nicht: Wie geht es mir? Es ist jetzt Wochenende, die zweite Augusthälfte 2023. Ich bin in Afrika. Meine Fans diskutieren über meine Beseitigung, es ist aber alles in Ordnung." Das auch als "Trolling" bezeichnete dubiose Video befeuert die innerrussische Debatte, wer hinter dem Flugzeugabsturz steckt und ob womöglich alles nur eine "Inszenierung" war. Es gibt laut Umfragen nicht wenige Russen, die überzeugt sind, dass Prigoschin noch lebt.

"Platz zwischen anderen Dämonen"

"Ein Video mit einem 'lebenden Prigoschin' zu zeigen, ist ein besonderes Ereignis, das darauf abzielt, die Machthaber und deren legitime Institutionen zu diskreditieren", heißt es prompt in einer Analyse auf "Russland kurzgefasst" (knapp 500.000 Abonnenten). Ein Justizmitarbeiter soll gesagt haben: "Das ist kein Scherz. Die Autoren verunglimpfen die Institution des Präsidenten und buchstäblich das gesamte Strafverfolgungssystem des Landes. Darauf bedarf es einer Antwort." Weitere Ungereimtheiten sind in Umlauf: So soll Prigoschin in den Wochen vor seinem Tod sehr emsig Teile seines Vermögens an befreundete Partner überschrieben haben.

Blogger Andrej Okun fasste die mit Händen zu greifende Verunsicherung so zusammen: "Prigoschin ist zu fest in den Köpfen der Russen verankert, als dass man ihn so einfach ausradieren könnte. Es würde mich nicht wundern, wenn in ein paar Wochen, wenn die Absperrungen der russischen Garde vom Porochow-Friedhof [in Sankt Petersburg] entfernt wurden, ein äußerst Motivierter beschließt, Prigoschins Leiche auszugraben, um der Wahrheit ein für alle Mal auf den Grund zu gehen, sozusagen für alle." Aber selbst, wenn eine unabhängige DNA-Analyse dessen Tod bestätige, werde das Verschwörungstheoretiker nicht überzeugen: "Weil Prigoschin nicht gestorben ist, damit sein Tod am Ende auf banale Weise geklärt wird. Nein, er wird weiterhin in Mythen leben. Sei also nicht der Beste in der Hölle [wie er es selbst angekündigt hatte]. Sein Platz ist hier, zwischen den anderen Dämonen."

"Wir stehen in harter Konkurrenz"

Unterdessen wird spekuliert, wie es mit der einst rund 25.000 Mann starken Söldnertruppe weitergeht. Die Rekrutierungs-Hotline in Sankt Petersburg ist nach Angaben der örtlichen Zeitung "Fontanka" nicht mehr in Betrieb. Fachleute urteilten, ohne den ebenfalls zu Tode gekommenen Sicherheits- und Logistikchef Waleri Tschekalow und den verstorbenen Chefkommandeur Dmitri Utkin habe Wagner keine Zukunft. Von der "New York Times" über CNN bis zur britischen BBC traut sich derzeit niemand, die Zukunft von "Wagner" vorherzusagen. "Meine Vermutung ist, dass Wagner ohne ihn auseinanderfallen wird, weil er die Gruppe auf eine sehr persönliche Art und Weise geführt hat, in einer Art und Weise, bei der ihm die Loyalität aller anderen sicher war", so Natascha Lindstaedt, Professorin an der University of Essex gegenüber CNN.

Laut dem Recherche-Portal "Istories" kursiert in den Kreisen der derzeit unbeschäftigten Mitarbeiter eine wenig motivierende Audiobotschaft: "Leute, die Lage ist extrem schwierig. Sie lassen uns nicht an die Front. Mehrere Zehntausend ausgebildete Kämpfer sind einsatzbereit und wollen ihr Heimatland verteidigen, aber sie lassen uns aufgrund bekannter Umstände noch nicht hinein. Wir sind nun gezwungen, nach Arbeitsmöglichkeiten in Afrika und im Nahen Osten zu suchen. Auch dort ist die Situation schwierig. Wir stehen in harter Konkurrenz zum Verteidigungsministerium und der Russischen Garde, die ebenfalls planen und versuchen, mit ähnlichen Aktivitäten, wie wir sie durchgeführt haben, dort mitzumischen."

Niemand will für Wagner-Truppe zahlen

Demnach empfiehlt die verbliebene Führung der Truppe ihren Leuten, sich vorübergehend "andere Möglichkeiten zu suchen, Geld zu verdienen" und ansonsten die internationale Lage zu beobachten. Wenn die Söldner an der Front wieder benötigt würden, werde sich das "Team" wieder melden, hieß es. In Belarus, wo nach der Rebellion vom 24. Juni ein größeres Zeltlager für die Prigoschin-Armee errichtet wurde, hat sie wohl keine Zukunft, obwohl der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko versichert hatte, "in ein paar Tagen" würden rund 10.000 Söldner "aus dem Urlaub" in das Quartier zurückkehren. Lukaschenko will für die Truppe allerdings kein Geld ausgeben, Moskau stoppte wohl auch die Finanzierung. Putin drängte die Söldner, Verträge mit dem russischen Verteidigungsministerium abzuschließen, doch die Zahl der Interessenten soll gering gewesen sein.

"Kein Charisma, keine vorzeigbaren Taten"

Unmittelbar vor Prigoschins Tod soll der Kreml Syrien unter Druck gesetzt haben, keine Wagner-Einheiten mehr zu dulden, wie der investigative Journalist Andrej Sacharow herausgefunden haben will. In Afrika wiederum könne das Wagner-Konkurrenzunternehmen "Konvoi" tätig werden, eine Privatarmee, die maßgeblich von der russischen VTB-Bank und Putins Kumpel Arkadi Rotenberg finanziert wird. Gerüchteweise plant der russische Geheimdienst schon länger, 20.000 Soldaten nach Afrika zu entsenden, um dort Prigoschins einstige Aufgaben zu übernehmen. Insofern ist die Klage von Prigoschins Kameraden über "harte Konkurrenz" nicht ganz unberechtigt.

"In einem Monat wird sich niemand mehr an sie erinnern", schreiben russische Leser despektierlich über die einst viel gefeierten Wagner-Söldner. Andere wünschen sich "ewige und gesegnete Erinnerung" oder seufzen: "Schade um Russland und ein Fehler!" Fans hätten generell ein "sehr kurzes Gedächtnis", behauptete ein Diskutant, andere bemerkten, dass es schwer werde, aus irgendeinem "Büroangestellten" einen Nachfolger zu machen: "Die Persönlichkeit wäre nicht diesselbe, kein Charisma, keine vorzeigbaren Taten, nur Worte."

"Natürlich wird es weitergehen"

Das alles wirkt so, als ob Putin im Bund mit seinem umstrittenen Verteidigungsminister Sergej Schoigu tatsächlich einen Schlussstrich unter das Kapitel "Wagner" ziehen will. Demnach ist die Perspektive für die Söldner, die Geheimdienst-Major Alexander Michailow aufzeigte, nicht sehr plausibel: "Natürlich wird es weitergehen, denn es bleiben wichtige internationale Projekte, insbesondere in Afrika, bestehen, die das Verteidigungsministerium aus vielen Gründen nicht selbst durchführen kann. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass man für die Leitung von Wagner eine angemessene Person mit internationaler Erfahrung braucht. Ich denke, Wagner wird seine Funktionen in Afrika und im Nahen Osten behalten, aber viel wird davon abhängen, wer diese Struktur leiten wird." Eine derartige Persönlichkeit ist allerdings nicht absehbar.

"Nicht mehr so sportlich wie Putin"

Prigoschins Sohn Pawel und seine Tochter Polina seien wohl kaum geeignet, das "Unternehmen" weiterzuführen, hieß es. Der Oligarch selbst sei zu Lebzeiten viel zu beschäftigt gewesen, um sich groß um seine Nachfolge kümmern zu können: "Ohne Unterstützung von außen wird es schwierig, aber viele schließen nicht aus, dass diese Unterstützung von einigen einflussreichen Akteuren kommen könnte." Das ist in den letzten Tagen jedoch nicht gerade wahrscheinlicher geworden.

Putin eliminierte auf welche Weise auch immer nicht nur Prigoschin, sondern weitere einflussreiche "Ultrapatrioten", die ihn regelmäßig heftig attackierten, darunter den Blogger Igor Strelkow, der in Untersuchungshaft sitzt. Er will nach eigenen Worten gegen Putin bei der Präsidentschaftswahl im März kommenden Jahres antreten, ein Vorhaben, das auch Prigoschin unterstellt wurde. Wörtlich heißt es auf Strelkows Telegram-Kanal: "Ich bin nicht mehr so ​​sportlich und gesund wie Wladimir Wladimirowitsch [Putin] in meinem Alter, daher werde ich Sie, liebe Wählerinnen und Wähler, rein körperlich nicht mehr als zwanzig Jahre belästigen können." Putin sei militärisch inkompetent, "äußerst leichtgläubig", "zu freundlich" und habe zu viele Freunde, denen er "nichts abschlagen" könne.

"Kein Glauben mehr an irgendetwas"

Was Prigoschin angeht, fragte sich übrigens ein russischer Beobachter: "Seltsam. Der Mann liebte die Hölle und die Dunkelheit, warum gibt es dann Kreuze auf den Gräbern seiner Kämpfer? Obwohl sie bereits an manchen Stellen herausgezogen wurden, wurden sie immerhin aufgestellt. Es gibt keinen Glauben mehr an irgendetwas."

"Hier ist Bayern": Der BR24 Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht’s zur Anmeldung!