Droht Machtvakuum an der Kreml-Spitze?
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Wartet ab: Wladimir Putin

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Auffällig abwesend: Experten über Putins "lähmende Untätigkeit"

Der russische Präsident lässt die Dinge laufen und hält sich nach Meinung von internationalen Fachleuten erstaunlich zurück. Dieser Hang zum Abwarten könne ihn schon bald von der Kreml-Elite abhängig machen, die er selbst herangezogen habe.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Manche sprechen schon von einer "Sklerose" des russischen Präsidenten, ein gewöhnlich gut informierter russischer Telegram-Politologe schreibt sogar: "Die Situation an der Front interessierte den Präsidenten praktisch nicht, und nachdem er sich einen kurzen Bericht des Militärs angehört hatte, schaltete er stillschweigend die Video-Verbindung ab." Mag sein, dass das haltlose Gerüchte sind: Die merkwürdige Lethargie des einst eher überaktiven Putin ist allerdings auch seriösen Beobachtern wie Tatjana Stanowaja vom Carnegie Centre für politische Studien aufgefallen. Ihr Fazit: "In Russland passiert nichts, das ist der Eindruck, den man bekommt, wenn man sich anschaut, was Wladimir Putin in den letzten sechs Monaten gemacht hat."

"Ergebnis von Putins wachsendem Messianismus"

Zwar sei Putin durchaus optisch präsent und widme sich "Routineangelegenheiten", aber er habe Russland bisher nicht mit strategischen Grundsatzentscheidungen an die "militärische Realität" angepasst. Gleichwohl sei die Lage äußerst "dynamisch", vor allem, was die zunehmende ideologische Unterdrückung betreffe. Die jedoch werde vom Geheimdienst durchgesetzt: "Die schleichende Ideologisierung hat die Grenzen der direkten Kontrolle Putins längst überschritten und entwickelt sich nun gegen den Willen des Präsidenten, wenn auch mit seiner passiven Zustimmung." Stanowaja formuliert drastisch, Politik finde aktuell in Russland ohne Putin statt: "Das ist keine Folge von Schwäche oder Angst, sondern das Ergebnis seines wachsenden Messianismus und seines Wunsches nach der Bequemlichkeit des Chefs."

Der Präsident verfüge "nicht über die Mittel und Ressourcen, um die Situation zu seinen Gunsten zu ändern", schreibt die Politologin: "Aber er glaubt, dass sich die Welt verändern wird." Mit anderen Worten: Putin setze auf eine Strategie des Abwartens. Die sei zwar durchaus plausibel, allerdings riskiere der Präsident, innerhalb seiner Führungsriege als "Defätist" dazustehen - so "loyal und kontrolliert", wie die Elite auch sein möge. Die "wütenden Patrioten" stießen in die Lücke und bauten ihren Einfluss massiv aus, weil einstige "Falken" wie Parlamentspräsident Wolodin und Ex-Präsident Dmitri Medwedew mittlerweile als "veraltet und moralisch ausgelaugt" dastünden.

"Keine Ikone und kein Priester wird helfen"

"Dadurch entsteht ein politisches Vakuum, das nach und nach mit alles durchdringendem patriotischem Plankton gefüllt wird", urteilt Stanowaja: "Putin selbst merkt möglicherweise nicht einmal, wie er eines Tages von der harmlosen Umgebung von gestern abhängig sein wird, die er selbst durch seine eigene Nähe und Untätigkeit geschaffen hat."

Was den "Messianismus" Putins angeht, muss er sich gerade ätzenden Spott gefallen lassen. Er hatte mal wieder eine wertvolle Ikone der Orthodoxen Kirche überlassen, obwohl die nur um eine zeitlich befristete Leihgabe gebeten hatte. Seitdem überschütten russische Netzkommentatoren den offenbar um sein Seelenheil besorgten Putin mit Hohn, etwa im St. Petersburger Blatt "Fontanka": "Es scheint, dass er völlig verrückt nach Unsterblichkeit ist. Wolodja, komm zur Besinnung, keine Ikone und kein Priester wird helfen, zieh dich zurück."

"Strategische Selbstverstümmelung"

In einem Leitartikel von "Bloomberg" wird Putin strategisches Vollversagen bescheinigt: "Indem er sich in diesen Konflikt einmischte, gab er seinen westlichen Feinden die Möglichkeit, Wirtschaftssanktionen, Exportkontrollen, Militärhilfe und andere Instrumente einzusetzen. Das machte alle Hebelwirkungen, insbesondere den Export von Energieressourcen, die Moskau zuvor genutzt hatte, um Europa zu unterwerfen, weitgehend zunichte; er verdammte sein Land zur wirtschaftlichen und technologischen Unterordnung unter Peking. Putins Vorgehen ist zu einer Meisterklasse der strategischen Selbstverstümmelung geworden."

Autokraten würden im Laufe ihrer Herrschaft "oft dümmer", heißt es da, weil sie "intoleranter und isolierter" würden. Putin habe auf eine "Strategie des Gangsters" gesetzt, nämlich auf den Einsatz schlecht ausgebildeter Soldaten in Massen: "Napoleons revolutionärer Kriegsstil hätte ihm beinahe die Macht über Europa verschafft, bis seine Gegner klug wurden und ihre Methoden änderten."

Im Fachblatt "Foreign Affairs" war zu lesen, Putin sei längst abhängig von dubiosen Leuten wie dem Söldnerführer Prigoschin, um ein Gegengewicht zur Armee zu haben, die schwer bis gar nicht unter Kontrolle zu halten sei: "Für Putin ist Wagner auch zu einem entscheidenden Mittel geworden, um das Militär einzudämmen, das er seit langem als potenzielle Bedrohung seiner Herrschaft ansieht. Entgegen westlicher Annahmen hat Wagners prominente Rolle im Krieg ebenso viel mit der Machtdynamik in Moskau zu tun wie mit dem, was auf dem Schlachtfeld in der Ukraine geschieht."

"Putin will keine Unruhe zulassen"

Der russische Experte Dmitri Trenin, ebenfalls früher tätig in der Moskauer Niederlassung der Carnegie Stiftung und jetzt überzeugter Kriegsbefürworter und "Patriot", hat offenbar auch den Eindruck einer bemerkenswerten Ruhebedürftigkeit im Kreml: "Putin versucht, eine Situation zu schaffen, in der die meisten Menschen in Russland weiterhin in ihrer gewohnten friedlichen, komfortablen und einigermaßen wohlhabenden Umgebung leben würden. Ich denke, diese besondere Schlussfolgerung ist richtig. Putin will nichts zulassen, was die innenpolitische Ruhe im Land destabilisieren könnte."

Trenin glaubt als Propagandist, Putin könne den Krieg "nahezu unbegrenzt weiterführen". Zwar wolle US-Präsident Joe Biden den Krieg seiner Meinung nach in diesem Jahr beenden, so der Experte: "Aber ich denke, dass Präsident Putin dieses Spiel wahrscheinlich nicht mitspielen wird."

Kritik am "moralischen Verfall der Elite"

Aus der nationalistischen Ecke werden dem Kreml seit längerem "Dummheit und Verrat" vorgeworfen, er sei mit seinem Unvermögen dafür verantwortlich, dass Russland in einer Lage wie bei der Februarrevolution 1917 sei - nämlich ohne ausreichende militärische Mittel, um den Krieg fortsetzen zu können. Der neulich gegründete "Club der wütenden Patrioten" kündigte an, regionale Untergruppen zu organisieren. Eine Strategie des Abwartens werde Russland nicht helfen: "Es ist unmöglich, eine systemische Krise in den Vereinigten Staaten auszusitzen. Das war eine gute Idee, die aber offenbar nicht funktioniert. Die Vereinigten Staaten beschleunigen die Krise auf kontrollierte Weise und wollen aus ihr herauskommen, indem sie die Niederlage Russlands beschleunigen."

Es sei "unmöglich", den Krieg mit dem "gegenwärtigen Zustand der russischen Elite" zu gewinnen: "Die Elite will offensichtlich keinen Sieg, sondern eine 'Niederlage nach Punkten' und eine 'ehrenvolle Kapitulation'. Sie möchte sich nicht mit unangenehmen Realitäten auseinandersetzen. Dazu ist sie nicht imstande. Der moralische und politische Verfall der Elite wird für Russland zum offensichtlichsten nichtmilitärischen Risiko im aktuellen Konflikt." Es sei ein "deutlicher Anstieg der sozialen Disziplin erforderlich", und zwar für alle Bürger: "Dazu ist politischer Wille erforderlich. Dessen Vorhandensein wird leider immer weniger offensichtlich."

"List ist sehr modern"

Recht unwirsch reagierte der Politologe Sergej Markow auf Vorwürfe eines Kolumnisten der "New York Times", Putin erweise sich als "schwache" Führungspersönlichkeit: "Es wäre richtig, den Humanismus beiseite und echte asiatische List an den Tag zu legen und diejenigen grausam zu täuschen, die bereits glauben, ihn betrogen und ausmanövriert zu haben. Es muss schwieriger für sie werden. List ist sehr modern. Die ganze Welt wird uns dann applaudieren."

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