In Russland sprechen die Militärblogger natürlich von einer hinterhältigen "Operation" des amerikanischen Geheimdiensts mit dem Ziel, das Ansehen von Söldnerführer Jewgeni Prigoschin massiv zu beschädigen. Die "Desinformationskampagne" werde auf "hohem Niveau" durchgeführt, heißt es in den Telegram-Kanälen: "Sie ist für Idioten und westliche und ukrainische Zuschauer gemacht." Der kremlnahe Politologe Sergej Markow vermutete, die USA wollten mit der Aktion der "Kapitulationspartei" im Kreml unter die Arme greifen, schließlich sei Prigoschins Söldnertruppe für Washington wie eine "Gräte im Hals".
Tatsächlich sorgte der Bericht der "Washington Post" für enormen Wirbel auf allen Seiten. Demnach wollte der Oligarch und Kriegsunternehmer der berüchtigten "Wagner"-Truppe aus Wut und Frust über ausbleibende Erfolge vor der umkämpften Stadt Bachmut im vergangenen Januar aus seiner Sicht einen "Pakt mit dem Teufel" schließen. Er soll dem ukrainischen Geheimdienst angeboten haben, russische Stellungen zu verraten, wenn die Ukraine im Gegenzug Einheiten aus Bachmut abziehe. Prigoschin rechnete sich demnach wohl einen Prestigegewinn aus: Während sich die russische Armee an allen Frontabschnitten "eingrub", hätten die Söldner einen spektakulären Offensiverfolg feiern können.
"Wollen Sie, dass ich wegen Hochverrat angeklagt werde?"
"Prigoschin übermittelte den Vorschlag seinen Kontaktleuten im militärischen Geheimdienst der Ukraine, mit denen er während des Krieges geheime Kommunikation aufgebaut hatte, wie aus zuvor nicht veröffentlichten Dokumenten des US-Geheimdienstes hervorgeht, die auf der Gruppenchat-Plattform Discord durchgesickert sind", so die Rechercheure der "Washington Post".
Präsident Putin könne dieses Verhalten durchaus "als Landesverrat" werten, heißt es weiter. Zwei ukrainische Agenten hätten bestätigt, dass Prigoschin das Gespräch gesucht habe, allerdings habe Kiew dem Söldnerchef nicht vertraut - obwohl dieser sein Angebot mehrfach "verlängert" habe. Ukrainische Agenten hätten gefürchtet, dass das eine Falle sei und Prigoschin unliebsame Einzelheiten über Kiews Tätigkeiten in afrikanischen Bürgerkriegsgebieten verraten würde.
Der ukrainische Präsident Selenskyj hatte in einem Interview mit dem US-Blatt ausweichend geantwortet, die ganze Angelegenheit sei Sache des Geheimdiensts, Indiskretionen kämen nur Russland zugute: "Wollen Sie, dass ich wegen Hochverrats angeklagt werde? Schließlich handelt es sich hierbei um das schwerste Verbrechen in unserem Land. Sie veröffentlichen einige Informationen, die unserem Staat nicht helfen. Daher verstehe ich nicht ganz, wovon Sie sprechen. Ich verstehe Ihre Absicht nicht ganz. Ist es Ihr Ziel, Russland zu helfen? Wir haben wohl unterschiedliche Ziele." Diese Interviewpassagen waren zunächst veröffentlicht, dann aber wieder gelöscht worden.
"Ja, natürlich kann ich das bestätigen"
Die "Washington Post" nannte auch das mutmaßliche Motiv des Söldnerchefs für seine angebliche Aktion: "Prigoschins tiefe Frustration über den erbitterten Kampf in Bachmut ist unbestritten. Er hat sich öffentlich und privat darüber beschwert, dass das russische Verteidigungsministerium seinen Kämpfern nicht die Munition und andere Ressourcen gegeben hat, die sie für den Erfolg benötigen."
Generell sei es nicht ungewöhnlich, dass Kriegsgegner geheime Gesprächskanäle offenhielten, hieß es. Prigoschin selbst reagierte wie üblich ironisch auf die Gerüchte: "Ja, natürlich kann ich diese Information bestätigen, wir haben vor den ausländischen Geheimdiensten nichts zu verbergen." Im Übrigen arbeite er mit dem ukrainischen Militärgeheimdienstchef Kyrylo Budanow "in Afrika" nach wie vor zusammen, aber dahin seien die Flugtickets für die "Washington Post"-Berichterstatter wohl zu teuer. In einer weiteren Audio-Nachricht sprach Prigoschin von "heißer Luft und Spekulationen": "Entweder einer der Journalisten wollte sich wichtig machen, oder es stecken die Genossen [aus dem Moskauer Villenviertel] Rubljowka dahinter, die einst unser Öl an den IS verscherbelten und die beschlossen, eine schöne Info-Blase platzen zu lassen."
"Psychopath, aber kein Nerd"
Sonderlich beschämt scheint der Söldnerchef vom Pressewirbel nicht zu sein: Nachdem in Frontnähe zwei russische Hubschrauber und angeblich auch zwei Kampfflugzeuge "abstürzten", behauptete er in seinem Telegram-Kanal, sie seien wohl von der eigenen Flugabwehr vom Himmel geholt worden. Offiziell hatte sich das Verteidigungsministerium dazu noch gar nicht geäußert. Des Weiteren regte sich Prigoschin darüber auf, dass seine Briefe an der Pforte des Verteidigungsministeriums "nicht angenommen" würden, ihm zufolge aufgrund einer persönlichen Anweisung von Minister Sergej Schoigu.
Im Übrigen geriet Prigoschin mit dem General und Parlamentsabgeordneten Viktor Sobolew aneinander, der sich öffentlich gefragt hatte, wozu Russland überhaupt Söldner benötige. Das sei ein klares Zeichen für eine Erkrankung an "antirussischer Ruhr", schoss Prigoschin zurück.
Der russische Rechtsextremist und "wütende Patriot" Igor Strelkow urteilte, er glaube nicht, dass Prigoschin einen schmutzigen Deal mit den Amerikanern eingehen wollte, um sich einen Erfolg in Bachmut zu sichern. Der Mann sei zwar ein "offensichtlicher Psychopath, aber kein kompletter Nerd, der Landesverrat begeht". Blogger Boris Rozhin flüchtete sich in Satire und meinte, die "Washington Post" sei in etwa so glaubwürdig, als ob das NS-Blatt "Völkischer Beobachter" berichtet hätte, dass der damalige russische Marschall Georgi Schukow für eine Million Reichsmark bereit gewesen sei, Stalingrad aufzugeben.
Kremlsprecher Dmitri Peskow sagte: "Sieht aus wie eine weitere Ente. Leider wird das auch in angesehenen Publikationen in den vergangenen Jahren nicht ausgelassen."
"Von vorn sicherer als von hinten"
"Prigoschin ist jetzt von vorn sicherer als von hinten", scherzte der Blogger Anatoli Scharij. Der prominente Kriegsberichterstatter Alexander Kots fühlte sich an die bekannten russische Trolle "Wowan und Lexus" erinnert, die mit ihren Scherz-Anrufen Schlagzeilen machten. Es gehe der Ukraine wohl um ein "Diskreditieren und Entmenschlichen" des Gegners. Propagandist Golowanow lobte den Wagner-Boss unverdrossen: "Seine Worte machen uns eine völlig andere Metaphysik bewusst, bescheren uns ein neues Verständnis vom Leben. Es stellt sich jetzt heraus, dass die ganze Geschichte nichts anderes ist als eine Zwischenkriegszeit."
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