18.09.23: Kriegsschiffe verschiedenere Nationen nehmen am maritimen Großmanöver "Northern Coasts 23" in der Ostsee vor der Küste Lettlands teil.
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18.09.23: Kriegsschiffe verschiedenere Nationen nehmen am maritimen Großmanöver "Northern Coasts 23" in der Ostsee vor der Küste Lettlands teil.

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Will Russland ein Nato-Land angreifen? Warum die Politik warnt

Polen, Estland, Deutschland: Führende Verteidigungspolitiker verschiedener Länder warnen vor einem russischen Angriff auf ein Nato-Land. Was dahintersteckt, welche militärischen Szenarien denkbar sind und um welchen Zeitraum es geht.

Über dieses Thema berichtet: Tagesgespräch am .

Die Warnungen klingen erschreckend, alarmierend. "Polen bereitet sich auf Krieg mit Russland vor", titelte die "Bild" jüngst in ihrer Online-Ausgabe. "Wir müssen kriegstüchtig werden", betont Deutschlands Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD). Und sein estnischer Amtskollege Hanno Pevkur sagte im November: "Wenn die baltischen Staaten fallen, ist Berlin als Nächstes dran."

Ob sich diese Wortmeldungen eines Tages als übertrieben oder korrekt herausstellen, kann niemand vorhersagen. Klar ist aber: Der Ton in der europäischen Verteidigungspolitik hat sich seit dem russischen Angriff auf die Ukraine verschärft, besonders in den vergangenen Wochen und Monaten. Welche militärischen Szenarien sind denkbar? Was bezwecken Politiker wie Pistorius mit ihren Worten? Und welche Rolle spielt die Nato?

Russland könnte die Nato im Baltikum herausfordern

Aktuell ist Russlands Armee an der Front in der Ukraine laut Experten weitgehend gebunden, die Verluste sind weiter vergleichsweise hoch. Dass Putin zusätzlich den Angriff auf Polen oder einen der baltischen Staaten befiehlt, wirkt unwahrscheinlich. Das gilt erst recht für einen Angriff auf ein noch zentraleres europäisches Nato-Land wie Deutschland. Auch eine weitere Mobilisierungswelle in Russland ist bisher nicht in Sicht, mehr Soldaten bräuchte es für einen solchen Plan aber zwingend.

Eine Garantie für die Ewigkeit ist das nicht: Bestärkt durch mögliche militärische Fortschritte in der Ukraine könnte Russland in absehbarer Zeit zusätzlich Operationen an der Nato-Ostflanke starten.

Wie das aussehen könnte, skizziert ein internes Dokument des Bundesverteidigungsministeriums, über das die "Bild" Mitte Januar berichtete und das vom Ministerium danach nicht dementiert wurde. Das Szenario nennt beispielhaft einen möglichen "Weg in den Konflikt" zwischen Russland und der Nato. Demnach könnte Russland zunächst zusätzliche 200.000 Männer für die Armee mobilisieren, danach im Baltikum schwere Cyber-Angriffe starten – und russische Minderheiten vor Ort aufwiegeln. In der Folge könnte es zu einem künstlich herbeigeführten Grenzkonflikt kommen.

Worst-Case-Szenarien üblich bei Sicherheitsfragen

Wichtig ist: Es handelt sich dabei um Worst-Case-Szenarien. Das ist bei Sicherheitsfragen üblich. "Wenn wir Bedrohungen erkennen, ist die beste Möglichkeit, den Frieden zu wahren, dass wir uns auf das Schlimmste vorbereiten", erläuterte Verteidigungsexperte Nico Lange von der Münchner Sicherheitskonferenz unlängst bei "Possoch klärt" von BR24. Das heiße nicht, dass das wirklich eintrete. "Aber wenn es zu solchen Situationen kommt und man ist unvorbereitet, können die Dinge einen ganz schlimmen Verlauf nehmen."

Auch deshalb wird derzeit in Europa durchgespielt, was ein möglicher Wahlsieg von Donald Trump in den USA für die deutsche und europäische Sicherheitslage bedeuten würde. Dass Trump die USA aus der Nato führt, ist wenig wahrscheinlich. Der deutsche Nato-Brigadegeneral Gunnar Brügner sagte zuletzt: "Ich habe absolut keinen Zweifel daran, dass unser größter Verbündeter engagiert bleiben wird." Aber ob die USA unter Trump wirklich unmissverständlich auch die Sicherheit der kleinen Nato-Mitgliedsländer Lettland, Estland und Litauen garantieren? Alles andere als gesagt.

Andererseits sind die USA zwar das strategisch wichtigste und militärisch stärkste Nato-Mitgliedsland. Es gibt aber noch 30 weitere Nato-Staaten, darunter die militärisch ernstzunehmenden Atommächte Frankreich und Großbritannien, die sich auch bei einem US-Präsidenten Trump an die Beistandsverpflichtung des Bündnisses gebunden fühlen dürften. Viele Nato-Mitglieder rüsten bereits massiv auf. Polen will die Zahl seiner Soldaten verdoppeln, Finnland verstärkt massiv die Luftabwehr. Insgesamt haben die Nato-Staaten rund 3,36 Millionen aktive Soldatinnen und Soldaten.

Karte: Die Nato-Mitgliedsländer und ihre militärische Stärke

Warnungen sollen aufrütteln und Debatten anstoßen

Militärisch-strategische Überlegungen sind das eine. Wahrscheinlich genauso wichtig sind die Signale nach innen, die Pistorius und andere Verteidigungsminister in ihre Gesellschaften senden. Der Bundesverteidigungsminister will mit seinen Warnungen nicht zuletzt eine Dienstpflicht-Debatte befeuern oder deutsche Soldaten ohne deutschen Pass ermöglichen. Das Standing der Bundeswehr in der Bevölkerung ist weiterhin ausbaufähig.

"Gesamtgesellschaftliche Verteidigung ist auf jeden Fall wichtig", betonte Sicherheitsexperte Lange jüngst bei BR24. Es reiche nicht, einfach nur zu sagen: "Da gibt es irgendwen, den Staat, die Streitkräfte, die machen das für uns." Der entscheidende Punkt für den gelingenden Widerstand der Ukrainer gegen Russland ist laut Lange, dass die gesamte Gesellschaft sich beteilige. "Wie stille ich eine Blutung? Wo laufe ich hin, wenn es einen Beschuss gibt? Wie organisiere ich Hilfe für die Truppe?"

Nato-Großmanöver "Steadfast Defender"

Szenarien durchspielen, durch Aufrüstung abschrecken, eigene Gesellschaften wachrütteln, auf die Stärke der Nato und dabei besonders auf die USA setzen – das sind wesentliche Pfeiler der europäischen Sicherheitspolitik seit Putins Angriffsbefehl gegen die Ukraine. Dazu passt das laufende Nato-Großmanöver "Steadfast Defender", mit 90.000 beteiligten Soldaten das größte seit dem Kalten Krieg. Dabei wird explizit die Verteidigung des Nato-Gebiets im Bündnisfall (Artikel 5) geübt.

Dass Russland genau auf solche Muskelspiele blickt, ist für Sicherheitsexperte Lange klar. "Wir wissen, dass Putin die ganze Zeit schaut: Was machen eigentlich die Deutschen, was machen die Europäer? Und wenn er irgendwie wittert, dass wir schwach sein könnten, dann wird er versuchen, etwas zu tun."

"Sicherheit des Baltikums ist auch unsere Sicherheit"

Wenn ein russischer Angriff droht – ob durch Soldaten, gezielte Verletzungen des Nato-Luftraums, massive Störaktionen wie Cyber-Attacken oder orchestrierte Unruhen – dann dürfte dieser Angriff wohl zunächst dem Baltikum gelten. Vermutlich wäre das aber nur der Anfang. "Die Sicherheit des Baltikums ist auch unsere Sicherheit", sagt Sicherheitsexperte Lange. Es sei deshalb gut und richtig, eine deutsche Brigade ab 2027 permanent in Litauen zu stationieren.

Bei Putins Rhetorik geht es laut Lange sehr stark darum, "ein dominantes russisches Imperium auf dem europäischen Kontinent voranzutreiben und uns zumindest erpressbar zu machen". Putin selbst erklärte vor einigen Monaten, Russland habe kein Interesse an einem Krieg mit Nato-Staaten.

Darauf verlassen will sich nach den Erfahrungen mit der Ukraine niemand. Verschiedenen Verteidigungsexperten zufolge dauert es nach dem Ukraine-Krieg fünf bis zehn Jahre, bis Russland wieder militärisch stark genug für einen weiteren Angriff ist. Verteidigungsminister Pistorius hält es für realistisch, dass Russland in den nächsten fünf bis acht Jahren ein europäisches Nato-Land angreift. Geht es nach Verteidigungsexperten, sind das fünf bis acht Jahre, in denen die Armeen und Gesellschaften dieser Nato-Staaten immer kriegstüchtiger werden sollen – um am Ende keinen Krieg führen zu müssen.

Im Video: Putin-Angriff: Ist Deutschland wehrlos? Possoch klärt!

Wladimir Putin, Präsident von Russland (Archivbild)
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Wladimir Putin, Präsident von Russland (Archivbild)

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