Geflüchtete an der syrisch-türkischen Grenze
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Geflüchtete an der syrisch-türkischen Grenze

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Türkei: Die Wut der Bürger, die Angst der Geflüchteten

In der Türkei berichten immer mehr Geflüchtete von massiven Anfeindungen bis hin zu willkürlichen Festnahmen durch die türkische Polizei. Auch die zunehmenden Abschiebungen verstärken die Zahl derer, die nach Europa wollen.

Über dieses Thema berichtet: BAYERN 3-Nachrichten am .

Jeden Tag, wenn sich Mara für die Arbeit fertig macht, fangen die Bauchschmerzen an. Das Problem ist für die junge Syrerin nicht ihr Job, sondern der Weg dorthin. Immer öfter werde sie offen angefeindet, erzählt sie. "Vor zwei Tagen lief ich mit einer Freundin die Straße entlang. Wir unterhielten uns auf Arabisch. Plötzlich kam eine ältere Frau auf uns zu und rief: 'Ihr Hunde, geht endlich zurück in euer Land!'" Mara war sprachlos und lief einfach weiter.

Vor mehr als fünf Jahren kam sie mit ihrer Familie in die Türkei. Sie ist offiziell als Flüchtling anerkannt. Die 29-Jährgie arbeitet als Übersetzerin, studiert hat sie eigentlich Physik, doch ihr syrischer Abschluss wurde nicht anerkannt. Dennoch baute sie sich ein Leben in der Fremde auf, fühlte sich akzeptiert - anfangs.

Geflüchtete: "Sie machen uns Angst"

Doch seit einiger Zeit fühlt sie sich nicht mehr sicher. "Ich habe das Gefühl, dass sie jeden Tag irgendwelche neuen Regeln und Schikanen für uns Flüchtlinge aufstellen. Aber das Schlimmste ist: Sie machen uns ganz offen Angst, indem sie uns mit Abschiebungen nach Syrien drohen."

Dass Rassismus gegen Syrer und andere Geflüchtete aus der Region, wie aus dem Iran oder Afghanistan, in der Türkei in den vergangenen Jahren kontinuierlich zugenommen haben, beobachtet auch Piril Ercoban vom Verein Mülteci Der, einer türkischen Flüchtlingsinitiative. "Im letzten Wahlkampf wurden Flüchtlinge zu einem Instrument der Innenpolitik", sagt sie. "In so vielen Bereichen ist man sich in der Türkei nicht einig, aber was die negative Sicht auf Flüchtlinge angeht, herrscht Einigkeit."

Erdogan und Kilicdaroglu - in der Flüchtlingsfrage vereint

So hetzte auch der vermeintlich sozial-demokratische Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu immer wieder gegen Syrer, sprach von mehr als zehn Millionen - Zahlen fernab der Realität. Das Bündnis um Staatspräsident Erdogan, ohnehin rechts-konservativ, kündigte großangelegte Rückführungsmaßnahmen an. Dieses Wahlversprechen scheint nun angelaufen zu sein.

Abschiebungswelle läuft

Mara erzählt, in ihrem Stadtviertel stünden an manchen Tagen an jeder Ecke Polizisten - auf der Suche nach Syrern, die illegal hier sind oder in einer anderen Stadt in der Türkei gemeldet. "Sie behandeln uns wie Kriminelle", klagt Mara. Der türkische Innenminister verkündete Mitte dieser Woche neue Zahlen, die die türkische Bevölkerung beruhigen sollen und Syrer wie Mara in Angst und Schrecken versetzen. In den vergangenen vier Monaten seien mehr als 105.000 Menschen verschiedenster Nationalitäten ohne gültigen Aufenthalt des Landes verwiesen worden.

Mara selbst hat zwar einen gültigen Aufenthaltstitel, kennt aber viele Geschichten von Personen, bei denen das keine Rolle gespielt habe, die dennoch festgenommen wurden und in Abschiebehaft kamen. Eine Freundin hielt diesem Druck und den Anfeindungen nicht mehr stand und hat die Türkei vor einiger Zeit verlassen - Richtung EU. Seitdem hat Mara nichts mehr von ihr gehört. Sie wisse nicht einmal, ob die Freundin noch lebe.

EU-Türkei-Abkommen: Wieviel ist es noch wert?

Ein Blick auf die offiziellen Zahlen der türkischen Regierung zeigt: Die Zahl der registrierten syrischen Geflüchteten in der Türkei nimmt seit einiger Zeit immer weiter ab. Waren es im März 2020 noch rund 3,6 Millionen, ist der letzte Stand, im September 2023, bei unter 3,3 Millionen – das tiefste Niveau seit sieben Jahren. Damals zeigte das im Frühjahr 2016 geschlossene EU-Türkei-Abkommen Wirkung: Die EU versprach Milliardenhilfen, im Gegenzug verpflichtete sich die Türkei, Fluchtrouten abzuriegeln und die Bürgerkriegsflüchtlinge zu versorgen. Beide Seiten halten sich schon seit mehr als drei Jahren nicht mehr an bestimmte Vereinbarungen.

Piril Ercoban vom Flüchtlingsverein Mülteci Der erklärt, die türkische Regierung verwehre syrischen Geflüchteten seit Sommer 2022 die Anerkennung. "Zum anderen treiben sie wirtschaftliche Faktoren, aber auch der Hass ihnen gegenüber und diskriminierende Richtlinien zur Rückkehr in ihr Heimatland oder zur Flucht nach Europa trotz aller Gefahren."

Berichte über Nötigung zur "freiwilligen Rückkehr"

Auch scheinen das Recht auf Asyl und Gründe wie Verfolgung im Heimatland keine Rolle mehr zu spielen. "Es gibt Berichte, wo erheblich Druck auf Migranten ausgeübt worden sein soll, Formulare zur freiwilligen Rückkehr zu unterschreiben - in sehr aggressiver Form", sagt Ercoban.

Davon berichtet auch Hamid aus dem Iran, der aus politischen Gründen nicht dorthin zurückkönne. Nach einer Auseinandersetzung mit seinem türkischen Vermieter standen Polizisten vor seiner Tür und nahmen ihn fest. Er glaubt, er wurde denunziert. Erst kam er auf eine Polizeiwache, dann in ein Abschiebezentrum, erzählt er. Zwei Tage habe er mit hunderten anderen Männern im Freien verbracht, auf Beton. "Wir durften niemanden anrufen, weder Familie noch Anwälte. Wir waren da zwei Tage lange eingepfercht in diesem Käfig, es hat immer wieder geregnet und die Polizisten haben uns nur ausgelacht und geflucht." Am dritten Tag sei er in eine überfüllte Zelle gebracht worden.

Auf dem Weg dorthin fallen ihm EU-Embleme an den Wänden auf. Im Nachhinein erfährt er: Das Zentrum wurde auch mithilfe von Geldern aus dem EU-Türkei-Abkommen finanziert. Irgendwann sagen ihm Beamte, wenn er ein Formular unterschreibe, komme er sofort raus. Das Formular: Die Einwilligung zur Abschiebung. Hamid weigert sich. Über die kommenden Tage seien die Drohungen so groß geworden, dass er mit dem Gedanken spielt, zu unterschreiben. Gerade noch rechtzeitig macht ihn seine türkische Freundin ausfindig und schaltet einen Anwalt ein. Der bekommt ihn frei und schafft es, die Deportation zu verhindern - vorerst.

"Wir sind die Türsteher für Europa"

Die türkische Regierung streitet Fälle wie den von Hamid ab. In der EU, wo es in der Vergangenheit auch wiederholt Berichte über Misshandlungen von Migranten durch Behörden kam, nimmt man die Fälle in der Türkei wahr, mehr nicht.

Längst liegen Ideen über ein aktualisiertes Abkommen mit der Türkei auf dem Tisch. Inzwischen aber lehnen große Teile der türkischen Bevölkerung das Abkommen ab, wenn auch nicht zwangsläufig aus moralischen Gründen. "Wir sind die Türsteher für Europa", schrieb vor einigen Monaten eine junge Türkin in den sozialen Medien - "und kommen selbst nicht mal rein." Ein Versprechen der EU war die Visafreiheit für türkische Staatsbürger, bis heute gibt es sie aus verschiedenen Gründen nicht.

Bleiben - oder weiter in die EU?

Hamid und Mara haben aufgehört, die politische Debatte zu verfolgen. Sie leben derzeit von Tag zu Tag und spielen nun beide mit dem Gedanken, die Türkei zu verlassen. Ihre Heimatländer kommen nicht in Frage, es bleibt derzeit nur Europa, sagt Mara. Dass die Anfeindungen auch dort stetig zunehmen, wissen beide. Auch die Zustände in den Lagern auf den griechischen Inseln kennen sie. Dennoch wägen sie nun ab: Jeden Tag ins Angst leben, abgeschoben zu werden, oder doch eine aus ihrer Sicht bisher ungenutzte Chance auf Freiheit wagen?

Video: Migrationsforscher Gerald Knaus über den europäisch-türkischen Flüchtlingspakt

Gerald Knaus
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Gerald Knaus

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