Der Verurteilte (re.) mit seinen beiden Verteidigern
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Der Verurteilte (re.) mit seinen beiden Verteidigern

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"NSU-2.0"-Prozess: Fast sechs Jahre Haft wegen Drohschreiben

Weil er neonazistische Drohschreiben vor allem an engagierte Frauen geschickt hat, muss ein 54-Jähriger für fünf Jahre und zehn Monate in Haft. Das Frankfurter Landgericht glaubt, dass er allein gehandelt hat. Betroffene bezweifeln das jedoch.

Nach Auffassung des Gerichts hat Alexander M. zahlreiche Faxe und E-Mails mit Beschimpfungen und Morddrohungen verfasst, unterzeichnet mit NSU 2.0 – ein direkter Bezug auf die Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund, die zwischen 2000 und 2007 zehn Menschen ermordete. Im Visier hatte der 54-jährige Arbeitslose vor allem engagierte Frauen und ihre Familien, darunter die Kabarettistin Idil Baydar, die Publizistin Hengameh Yaghoobifarah, die ARD-Moderatorin Anja Reschke und auch mehrere Politikerinnen wie die heutige Bundesinnenministerin Nancy Faeser. Die Vorsitzende Richterin am Frankfurter Landgericht, Corinna Distler, sagte in ihrer Urteilsverkündung, der Prozess habe gezeigt, "wie schrecklich es sein kann, wenn Menschenwürde durch Sprache angetastet wird". Die Opfer hätten sich hilflos gefühlt und seien traumatisiert worden.

Staatsanwaltschaft hatte siebeneinhalb Jahre Haft gefordert

Mit seinem Urteil blieb das Frankfurter Landgericht unter der Forderung der Staatsanwaltschaft. Diese hatte siebeneinhalb Jahre Haft gefordert, unter anderem wegen Beleidigung und versuchter Nötigung sowie Störung des öffentlichen Friedens und Volksverhetzung. Das Gericht schloss sich der Auffassung der Anklagebehörde an, dass Alexander M. die Briefe "alle allein geschrieben" habe. Damit wies das Gericht die Argumentation der Nebenklage zurück: Betroffene der Drohbriefserie bezweifeln bis heute, dass M. wirklich als Einzeltäter gehandelt hat. Sie vermuten, dass auch Polizisten in die Taten involviert waren.

Morddrohungen gegen ein Kleinkind

Die Drohbrief-Serie begann Anfang August 2018. Damals erhielt die Frankfurter Strafverteidigerin Seda Başay-Yıldız ein Fax mit wüsten Drohungen gegen sie und ihre Familie – unterzeichnet mit NSU 2.0. Die Anwältin vertrat zu diesem Zeitpunkt Angehörige von Mordopfern im NSU-Prozess vor dem Münchner Oberlandesgericht. Der Verfasser des Drohschreibens kündigte an, Başay-Yıldız zu ermorden und ihre damals zweijährige Tochter "zu schlachten".

Seitdem habe sich ihr Leben grundlegend verändert, so Başay-Yıldız im BR24-Interview. Sie überlege es sich inzwischen dreimal, ob sie ein Verfahren von größerem öffentlichen und medialen Interesse annehme. Bei Veranstaltungen, zu denen sie eingeladen werde, sei sie stets in Hab-Acht-Stellung. "Hat diese Person etwas in der Hand, etwa einen spitzen Gegenstand? Verhält sie sich auffällig? Die Unbekümmertheit, einfach auf Menschen zuzugehen, ist verloren gegangen."

Rechtsextreme Chats mit Polizisten

Verloren hat Başay-Yıldız auch das Vertrauen in staatliche Behörden. Denn bei den Ermittlungen kam heraus, dass die vertraulichen Daten über sie und ihre Tochter nur wenige Minuten vor dem Verschicken des ersten Droh-Faxes von einem Computer der Polizeiwache im Frankfurter Bahnhofsviertel abgerufen worden waren.

Und wie sich bald herausstellte, gehörten Beamte der Wache zu einer extrem rechten Chatgruppe. Die dort geteilten Inhalte seien schlicht menschenverachtend gewesen, so Başay-Yıldız: "Antisemitisch, rechtsextremistisch, rassistisch, frauenfeindlich und behindertenfeindlich – das hat mich fassungslos gemacht."

Alexander M. - ein Einzeltäter?

Seda Başay-Yıldız war das erste, aber nicht das einzige Opfer, das NSU 2.0-Drohschreiben erhielt. Meist traf es engagierte Frauen und oft wurden die Daten der Betroffenen vorher von hessischen Polizeicomputern abgefragt.

Als mutmaßlicher Urheber der Schreiben wurde im März 2021 überraschend der 54-Jährige Arbeitslose Alexander M. verhaftet, dem seit Februar in Frankfurt der Prozess gemacht wird. Laut Staatsanwaltschaft beschaffte sich M. die persönlichen Daten seiner Opfer, indem er bei Polizeibehörden anrief und sich als Polizist ausgab.

„Da hätte noch jemand auf der Anklagebank sitzen müssen“

„Für uns Betroffene war es schon eine Erleichterung, als ein Täter gefasst wurde“, sagt Martina Renner. Die Innenpolitikexpertin der Bundestagsfraktion der Linken hatte ebenfalls NSU 2.0-Drohschreiben erhalten. Sie sei sicher, dass Alexander M. schuldig sei, so Renner, an der Einzeltätertheorie habe sie jedoch starke Zweifel: "Wir glauben, dass es im Darknet Boards oder Foren gibt, wo persönliche Daten ausgetauscht und möglicherweise auch Verabredungen getroffen werden, welche Personen des öffentlichen Lebens in den Fokus von Bedrohungen gerückt werden sollen." Auch Seda Başay-Yıldız ist sich sicher: Alexander M. war nicht der alleinige Täter. Zahlreiche Indizien deuteten darauf hin, dass zumindest das erste Drohfax von einem Beamten der Polizeiwache 1 in Frankfurt verschickt wurde. "Deswegen meine ich, da hätte noch mindestens ein weiterer Beschuldigter auf der Anklagebank sitzen müssen. Das war leider nicht der Fall."

Braune Schafe zur Verantwortung ziehen

Seda Başay-Yıldız sieht die Polizei keinesfalls entlastet. Polizisten hätten sie und ihre Familie in Gefahr gebracht. Viel wichtiger als eine Verurteilung des Angeklagten sei ihr, dass bei der Polizei Konsequenzen gezogen würden: "Mir geht es darum, dass ich mich darauf verlassen muss, dass die Polizei jeden Menschen in diesem Land gleich schützt und dass auf gar keinen Fall eine Gefahr von der Polizei für Bürger ausgeht."

Sie sei froh, dass sie von vielen Polizistinnen und Polizisten Zuspruch und Solidarität erhalten habe und sei sicher, dass sich die überwiegende Mehrheit der Beamtinnen und Beamten der freiheitlich-demokratischen Grundordnung verpflichtet fühle, betont Başay-Yıldız. Doch noch immer gebe es insbesondere bei der hessischen Polizei keine ausreichenden internen Strukturen, wie etwa spezielle Polizeibeauftragte, damit braune Schafe rechtzeitig entdeckt und zur Verantwortung gezogen werden.

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