Sicherheitskräfte nahe der Raketeneinschlagstelle im polnischen Przewodów.
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Sicherheitskräfte nahe der Raketeneinschlagstelle im polnischen Przewodów.

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Was über den Raketeneinschlag in Polen bekannt ist

Raketeneinschlag auf Nato-Gebiet in Polen. Woher kam der Flugkörper, aus Russland oder der Ukraine? Wie reagierte Polen, wie die USA? Welche Mechanismen greifen nach so einem Vorfall in der Nato? Die wichtigsten Fragen und bisherigen Antworten.

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Im Osten Polens ist am Dienstag eine Rakete eingeschlagen, nahe der Grenze zur Ukraine. Dabei kamen zwei Menschen ums Leben. Regierungschefs der Nato- und G7-Staaten erhielten die Nachricht von dem Vorfall während ihres Aufenthalts beim G20-Gipfel in Bali. Mehrere Krisensitzungen waren die Folge. Am Mittwoch erklärten sowohl Polens Präsident Andrzej Duda als auch Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg, es gebe keinen Hinweis auf einen vorsätzlichen Angriff auf Polen. Zuvor hatte US-Präsident Joe Biden gesagt, es sei "unwahrscheinlich", dass die Rakete von russischem Boden aus abgeschossen worden sei.

Wie also ist der Raketenschlag zu erklären? Und welche Auswirkungen hat er?

Was ist bislang über den Raketeneinschlag bekannt?

Nach Angaben des polnischen Außenministeriums handelt es sich um eine Rakete aus russischer Produktion. Sie schlug am Dienstagnachmittag um 15.40 Uhr auf dem Gelände eines landwirtschaftlichen Betriebs in Przewodow ein - einem Dorf ganz im Osten des Landes, keine zehn Kilometer von der Grenze zur Ukraine entfernt. Zwei polnische Staatsbürger wurden getötet.

Wer hat die Rakete abgefeuert?

Die Nato hat keine Erkenntnisse, dass der Raketeneinschlag in Polen von Russland ausgegangen ist. Das betonte Generalsekretär Stoltenberg nach einer Sondersitzung des Nato-Rats in Brüssel. Es sei wahrscheinlich, dass eine ukrainische Luftabwehrrakete versehentlich in Polen eingeschlagen sei. Die sei aber nicht die Schuld der Ukraine, betont Stoltenberg. Russland müsse diesen "sinnlosen Krieg" beenden.

Auch der polnische Präsident Andrzej Duda sieht keinen Beweis für einen absichtlichen Angriff auf sein Land. Die im Osten niedergegangene Rakete sei in Russland hergestellt worden, es gebe aber keinen Beweis dafür, dass sie auch von dort abgefeuert worden sei, sagte er am Mittwochmittag in Warschau vor der Presse. Es sei sehr wahrscheinlich, dass die Rakete von der ukrainischen Luftabwehr eingesetzt worden sei. Vermutlich handele es sich um einen unglücklichen Zwischenfall.

Zuvor hatte Duda erklärt, dass es sich höchstwahrscheinlich um eine Rakete aus russischer Produktion gehandelt habe, der Vorfall aber noch untersucht werde. US-Präsident Biden hatte am Mittwoch am Rande des G20-Gipfels gesagt, die Flugbahn der Rakete lasse es "unwahrscheinlich" erscheinen, dass sie aus Russland abgefeuert wurde. Später berichtete er nach Informationen von dpa und Reuters in einer der Krisensitzungen hinter verschlossenen Türen, dass es sich bei dem Geschoss um eine Flugabwehrrakete aus Beständen der Ukraine handeln könnte.

Den ganzen Dienstag über war die Ukraine massiv von Russland beschossen worden: Russland feuerte nach Kiewer Zählung mehr als 90 Raketen und Marschflugkörper ab.

Video: Nato-Generalsekretär Stoltenberg zu Raketeneinschlag in Polen

Nato-Generalsekretär Stoltenberg zu Raketeneinschlag in Polen
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Nato-Generalsekretär Stoltenberg zu Raketeneinschlag in Polen

Was ist über die Rakete bekannt?

Die Rakete gehört nach Angaben der polnischen Regierung zum Flugabwehrsystem des Typs S-300. Am Ort der Explosion seien Trümmer eines solchen Flugabwehrgeschosses gefunden worden, erklärte Polens Justizminister Zbigniew Ziobro.

Die S-300 ist ein mobiles sowjetisches Flugabwehrsystem, entwickelt vom Elektronik- und Maschinenbauer Almas. Die Raketen dazu stammen vom Konstruktionsbüro "Fackel". Beide Unternehmen sind Teil des heutigen russischen Rüstungskonzerns Almas-Antej. Seit 1979 sind die S-300 im Dienst. Inzwischen gibt es das Nachfolgemodell S-400. Dennoch werden die S-300 bis heute genutzt, sowohl vom russischen als auch vom ukrainischen Militär.

Eingesetzt werden sie normalerweise an der Front und im Hinterland - zum Schutz eigener Einheiten oder von Industrie- und anderen strategisch wichtigen Objekten vor Luftangriffen. Ihre Reichweite liegt abhängig von den genutzten Raketen bei bis zu 200 Kilometern. Im Angriffskrieg gegen die Ukraine hat Russland die Raketen des S-300-Systems nicht nur gegen Ziele in der Luft, sondern vielfach auch zum Beschuss ukrainischer Städte benutzt.

Am Dienstag allerdings sollen von Russland vor allem moderne Lenkwaffen des Typs "Kalibr" von Schiffen aus dem Schwarzen Meer und Interkontinentalraketen vom Typ "Awangard" aus dem Kaspischen Meer abgeschossen worden sein. Aus Belarus, der einzigen Region, von wo aus auch S-300-Raketen polnisches Gebiet hätten erreichen können, wurden keine Abschüsse gemeldet.

Wie reagierte Polen?

Polen, Nato-Staat zwischen Deutschland und der Ukraine, versetzte nach dem Raketenvorfall Teile seiner Streitkräfte in erhöhte Alarmbereitschaft. Warschau bestellte zudem den russischen Botschafter ein und alarmierte die Nato.

Es werde möglicherweise nicht nötig sein, das Procedere nach Artikel 4 des Nato-Vertrages in Gang zu setzen, sagte Ministerpräsident Mateusz Morawiecki am Mittwoch. Es werde aber weiterhin die Möglichkeit geprüft. Artikel 4 sieht engere Konsultationen der Mitglieder der Militärallianz vor, wenn die Sicherheit eines von ihnen bedroht ist.

Am Vormittag waren die ständigen Vertreter der Bündnisstaaten bei der Nato in Brüssel zu einer Krisensitzung zusammengekommen.

Was regelt der Artikel 4 des Nato-Vertrages?

Artikel 4 sieht Beratungen der Nato-Staaten vor, wenn einer von ihnen die Unversehrtheit seines Gebiets, die politische Unabhängigkeit oder die eigene Sicherheit bedroht sieht. Konkret heißt es darin: "Die Parteien werden einander konsultieren, wenn nach Auffassung einer von ihnen die Unversehrtheit des Gebiets, die politische Unabhängigkeit oder die Sicherheit einer der Parteien bedroht ist." Konkrete Reaktionen muss das nicht zur Folge haben.

Der Artikel wurde Nato-Angaben zufolge seit der Gründung des Bündnisses 1949 sieben Mal in Anspruch genommen - zuletzt am 24. Februar, dem Tag des russischen Überfalls auf die Ukraine. Beantragt wurde das damals von Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien, der Slowakei und der Tschechischen Republik.

Warum beantragt Polen nicht den Bündnisfall nach Artikel 5?

In Artikel 5 des Nato-Vertrages ist geregelt, dass die Nato-Staaten einen bewaffneten Angriff gegen einen oder mehrere Partner als Angriff gegen alle ansehen. Daraus ergibt sich die Verpflichtung, Beistand zu leisten. Doch bislang gibt es keine Hinweise darauf, dass die Rakete gezielt auf das polnische Dorf abgefeuert wurde.

Artikel 5 wurde erst ein einziges Mal aktiviert - nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in den USA. Dies führte dazu, dass Deutschland und andere Nato-Staaten sich am Krieg gegen die Taliban und die Terrororganisation Al-Kaida in Afghanistan beteiligten.

Wie reagiert Russland?

Nach Bekanntwerden des Vorfalls sprachen mehrere Stimmen aus Russland von einer "bewussten Provokation" und wiesen jegliche Schuld an dem Raketeneinschlag in Polen von sich. Am Mittwoch hieß es vom russischen Verteidigungsministerium, Russland habe am Dienstag ausschließlich ukrainisches Territorium angegriffen. Die Ziele seien nicht näher als 35 Kilometer von der ukrainischen Grenze zu Polen entfernt gewesen.

Was sagen die Partner Polens?

Die Staats- und Regierungschefs der sieben großen westlichen Demokratien (G7) erfuhren vom Einschlag der Rakete beim G20-Gipfel auf Bali. Zum Zeitpunkt der Explosion saßen die meisten dort gerade bei einem Abendessen unter freiem Himmel. Der Vertreter Russlands, Außenminister Sergej Lawrow, war bereits abgereist. Am Mittwochmorgen hatte US-Präsident Biden dann eine Krisensitzung einberufen. Später wurde eine Erklärung veröffentlicht, in der es heißt: "Wir bieten Polen unsere volle Unterstützung und Hilfe bei den laufenden Ermittlungen an." Zugleich wurde Russland für "barbarische Angriffe" verantwortlich gemacht.

Viele Staaten haben inzwischen gemäßigt reagiert, darunter Deutschland und Frankreich. Sie stellen sich an die Seite Polens, warnen jedoch vor voreiligen Schlüssen und wollen zunächst eine sorgfältige Aufklärung des Vorfalls. Deutschland bot Polen Hilfe bei Luftraumüberwachung an: "Dies kann bereits morgen erfolgen, wenn Polen das wünscht", sagte ein Sprecher des Verteidigungsministeriums am Mittwoch in Berlin in der Bundespressekonferenz. Es gehe um eine Verstärkung des so genannten Air Policing mit Eurofighter-Flugzeugen der Luftwaffe. Die Patrouillen könnten von deutschen Luftwaffenbasen aus erfolgen. Die Luftwaffe habe dies im laufenden Jahr bereits bis Juli gemacht.

Der ukrainische Präsidentenberater Podoljak reagierte am Mittwoch auf Bidens Äußerung, wonach die Rakete nach aktuellem Informationsstand wahrscheinlich nicht von Russland abgefeuert worden sei. Er erklärte: "Russland hat den östlichen Teil des europäischen Kontinents in ein unberechenbares Schlachtfeld verwandelt. Absicht, Hinrichtungsmittel, Risiken, Eskalation – all das ist nur Russland", betonte er Präsidentenberater. "Und anders sind Zwischenfälle mit Raketen nicht zu erklären."

Mit Informationen von dpa und Reuters

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