18.10.2023: Gepanzerte Personentransporter und andere gepanzerte Fahrzeuge der israelischen Armee im Süden Israels nahe der Grenze zum Gazastreifen.
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Gepanzerte Personentransporter und andere gepanzerte Fahrzeuge der israelischen Armee im Süden Israels nahe der Grenze zum Gazastreifen (Archiv).

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Kampf gegen Hamas: Warum Israels Bodenoffensive bisher ausbleibt

Kurz nach dem Angriff der Hamas auf Israel zog das Land Militär zusammen und über 300.000 Reservisten ein. Beobachter sahen darin die Vorbereitung auf eine Bodenoffensive im Gazastreifen. Doch diese blieb bisher aus. Experten zu möglichen Gründen.

Über dieses Thema berichtet: BAYERN 3-Nachrichten am .

Nach dem Großangriff der radikalislamischen Hamas am 7. Oktober hatten viele Beobachter mit einer schnellen Bodenoffensive Israels gerechnet. Israel jedoch zeigt sich bisher zurückhaltend. Zwar hat das Land Tausende Soldaten und gepanzerte Fahrzeuge an der Grenze zum Gazastreifen zusammengezogen und rund 360.000 Reservisten – auch aus Deutschland und anderen Ländern – mobilisiert. Doch wann und ob überhaupt die Bodenoffensive beginnt, darüber herrscht Schweigen.

Am Wochenende hieß es in Medien, ein bewölkter Himmel verhindere noch den Start des Großeinsatzes zur Vernichtung der Terrororganisation Hamas. Die israelische Armee hat mittlerweile jedoch dementiert, dass das Wetter der Grund für die Verzögerung sei. Doch welche Gründe halten Israel dann davon ab, seine Soldatinnen und Soldaten am Boden in den Gazastreifen zu schicken?

"Hochkomplexe sicherheitspolitische Situation"

Es handele sich um eine "hochkomplexe sicherheitspolitische Situation", sagt Stephan Stetter, Professor für Internationale Politik und Konfliktforschung an der Universität der Bundeswehr München. Der Nahost-Experte führt im Gespräch mit BR24 aus, dass Israel erst vor einer Woche eine Notstandsregierung unter Einschluss der Opposition und ein Kriegskabinett auf die Beine gestellt habe. Alle Mitglieder hätten zuerst einmal gebrieft und eine gemeinsame politische Linie gefunden werden müssen.

Neben diesem innenpolitischen Aspekt gebe es aber auch einen außenpolitischen: So seien die USA "in ganz ungewöhnlicher Weise involviert", sagt Stetter. US-Außenminister Antony Blinken hätte beispielsweise sieben Stunden zusammen mit dem israelischen Kriegskabinett getagt. Neben der Vernichtung der Hamas geht es den Vereinigten Staaten auch um den Schutz der Bevölkerung im Gazastreifen.

Eventuelle Pläne zu einer möglichen Besetzung bezeichnet US-Präsident Joe Biden als "großen Fehler". "Die extremen Elemente der Hamas repräsentieren nicht das gesamte palästinensische Volk. Und ich denke, es wäre ein Fehler von Israel, Gaza erneut zu besetzen", sagte Biden in einem Interview der CBS-Nachrichtensendung "60 Minutes".

Experte: Flächenbrand hieße Zunahme von weltweitem Terrorismus

Die USA fürchten einen Flächenbrand, so Stetter. Dieser würde zu einer "umfassenden Eskalation" führen und "über Jahre Auswirkungen auf die Region haben". Länder wie der Libanon oder Jordanien könnten instabil werden, erklärt der Nahost-Experte. Der weltweite Terrorismus würde zunehmen.

Amerika unterstütze Israel bei seinem militärischen Ziel, die Hamas zu zerschlagen, sagt Stetter. Das bedeute, die führenden Köpfe müssen eliminiert und die Waffendepots zerstört werden. Die Terrororganisation dürfe künftig "keine Rolle mehr spielen".

Aber für die USA sei es auch wichtig, wie eine Nachkriegsordnung aussieht, daher würden auch intensive Gespräche mit Ägypten, Saudi-Arabien und anderen Ländern geführt. "Es muss einen Pfad zu einem palästinensischen Staat geben", sagte Biden im bereits genannten Interview. Dieser Pfad sei die Zwei-Staaten-Lösung, die die USA seit Jahrzehnten unterstützten.

Bodeneinsatz birgt für Soldaten hohes Risiko

Bisher hat Israel, abgesehen von kleinen Spezialoperationen, vor allem Luftangriffe auf Ziele im Gazastreifen geflogen – ein überschaubares Risiko für die Soldaten. Der Einsatz von Bodentruppen dagegen birgt ein hohes Risiko.

Da es sich bei der Hamas um keine Armee, sondern eine Terrorgruppe handele, sei für die israelischen Truppen nur schwer zu erkennen, wer Terrorist ist und wer Zivilist. Die Soldaten würden in eine Situation kommen, "in der sie zwischen Freund und Feind ganz, ganz schlecht – oder gar nicht unterscheiden können", sagt Militärexperte Christian Mölling, Forschungsdirektor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) im ZDF.

Im 365 Quadratkilometer großen Gazastreifen leben mehr als zwei Millionen Menschen. Das Gebiet ist eng besiedelt. Der israelischen Armee droht ein Kampf in dicht besiedelten Städten und in unterirdischen Tunnel-Systemen, die die Hamas über Jahre gebaut hat. Dazu kommt: In manchen Städten und Dörfern sind die Gassen so schmal, dass keine Autos, geschweige denn Militärfahrzeuge durchkommen.

"Sie nutzen die Tunnel, um plötzlich, wie aus dem Nichts hinter unseren Einheiten aufzutauchen. Deshalb dürfte eine erneute Bodenoffensive ein schwieriger Einsatz werden", warnt Ely Karmon, israelischer Politologe und Analyst des internationalen Instituts für Terrorismusbekämpfung in Herzliya gegenüber BR24. Hinzu kommt, dass der Überraschungsmoment weg ist: Die Hamas hatte viel Zeit, sich vorzubereiten. Eine solche Operation würde nicht nur das Leben von Palästinensern und Hamas-Kämpfern fordern, sondern "vor allen Dingen israelische Leben", sagt Mölling.

Das Gebot der Stunde seien daher flächendeckende Luftangriffe, so Ely Karmon. Die Luftwaffe versuche, "eine Art Autobahn in den Gazastreifen zu bomben, damit man ungehindert tiefer in das Gebiet hineinkommt", sagt der Analyst. Zu dieser Theorie, werde man sich nicht äußern, sagt Armee-Sprecher Arye Shalicar und ergänzt: "Wie Israel bei der Auslöschung der Hamas militärstrategisch vorgeht, wird nicht kommentiert."

In der Karte: Übersicht des Gazastreifens

Gefahr für die von der Hamas verschleppten Geiseln

Eine Bodenoffensive würde auch die Gefahr für die von den Hamas in den Gazastreifen verschleppten rund 200 Geiseln deutlich erhöhen. Unter ihnen sind nach Angaben des israelischen Militärs vom Donnerstagabend fast 30 Kinder. Israel will nicht die eigenen Staatsbürger bombardieren oder eliminieren. Die Pläne, Geiseln zu retten, stellen die Regierung und die Armee vor eine große Herausforderung, die Zeit kostet.

Auch die USA versuchen laut Präsident Biden alles, um die Geiseln aus dem Gazastreifen nach Hause zu holen. Dies wiederholte er in der Nacht auf Freitag in seiner live übertragenen Rede an die Nation. Auch die Bundesregierung und viele weitere Länder drängen auf eine Freilassung der Geiseln.

Gefahr eines Zwei-Fronten-Kriegs: Was macht die libanesische Hisbollah?

Eine weitere Unbekannte, die Israel bei einer möglichen Bodenoffensive bedenken muss, ist das Verhalten der libanesischen Hisbollah, die von westlichen Staaten ebenso als Terrororganisation eingestuft wird. Schon seit Tagen kommt es an der Grenze zwischen Israel und dem Libanon immer wieder zu kleineren Gefechten, bei denen auf beiden Seiten bereits einige wenige Menschen ums Leben gekommen sind.

Die Angst Israels: Während seine Streitkräfte gegen die Islamisten in Gaza kämpfen, könnte der jüdische Staat im Norden von der Hisbollah unter schweren Beschuss geraten. Deren geschätzt rund 150.000 Raketen würden sehr viel mehr Schaden anrichten als die weniger modernen Geschosse der Hamas.

Militärexperte Mölling hält die Gefahr aus dem Norden zwar nicht für größer als die aus dem Süden, aber, so betont er im ZDF: "Aus Sicht der Israelis ist es natürlich schlecht, wenn man sich um zwei Probleme gleichzeitig kümmern muss." Die Israelis müssten schauen, wie man "es hinkriegt, im Gazastreifen aktiv zu werden, ohne gleichzeitig viele andere Probleme im Norden – aber auch möglicherweise im Westjordanland" – zu schaffen.

Im Video: Die Lage in Israel und im Gazastreifen vor der erwarteten Bodenoffensive

Die Lage in Israel und im Gazastreifen vor der erwarteten Bodenoffensive
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Die Lage in Israel und im Gazastreifen vor der erwarteten Bodenoffensive

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