Die Zahlen, die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen vor den Staats- und Regierungschefs der EU präsentierte, sprechen eine deutliche Sprache: 77 Millionen Impfstoffdosen wurden aus der EU exportiert, 21 Millionen davon gingen nach Großbritannien. Damit wurde aktuell eine größere Menge exportiert als innerhalb der Staatengemeinschaft verabreicht. Zündstoff für die ohnehin aufgeladene Impfstoffdebatte, die immer häufiger mit auch als „Impfstoffdebakel“ bezeichnet wird.
Europäischer Rat unterstützt verschärfte Ausfuhrkontrollen
Weil insbesondere der britisch-schwedische Hersteller Astrazeneca hinter vertraglich vereinbarten Lieferzusagen zurückbleibt, will die EU nun gegensteuern. Im Entwurf der Gipfel-Erklärung heißt es, die Hersteller müssten ihre vertraglichen Liefertermine einhalten. Die Staats- und Regierungschefs befürworten demnach die Kontrolle von Ausfuhren in Drittstaaten: „Wir betonen die Wichtigkeit von Transparenz sowie die Verwendung von Exportgenehmigungen.“ Der EU-Gipfel folgt damit der Europäischen Kommission, die am Mittwoch die Exportregeln deutlich verschärft hatte.
Ein- und Ausfuhr von Impfstoff: Kurz spricht von massivem Missverhältnis
Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) machte deutlich: "Die Europäische Union hat bisher über 70 Millionen Dosen Impfstoff in alle Himmelsrichtungen der Welt exportiert, hat aber keine einzige Dose von anderen Teilen der Welt erhalten." Das sei ein "massives Missverhältnis", so Kurz wörtlich. Zustimmung auch von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), die zugleich forderte, im Zuge der Pandemie die Schwächen der EU "schonungslos" zu analysieren.
Am Rande des Gipfels fielen aber auch mahnende Worte: Verschärfte Exportbedingungen und die Möglichkeit, die Ausfuhr von Impfstoffen zu den eigenen Gunsten zu unterbinden, dürfe nicht für Vergeltungsaktionen missbraucht werden. Zudem sei es nicht ratsam, wegen "eines einzelnen schwarzen Schafes" die globalen Wertschöpfungsketten von Impfstoffen zu gefährden, erklärte ein EU-Diplomat.
Großbritannien: Exklusiv-Vertrag übertrumpft EU
Gemeint ist damit das frühere EU-Land Großbritannien, das im Verdacht steht, von Astrazeneca bevorzugt beliefert zu werden – zu Lasten der EU, die statt 120 Millionen Dosen Impfstoff im ersten Quartal nur einen Bruchteil von knapp 30 Millionen bekommt. Großbritanniens Gesundheitsminister Matt Hancock verwies hingegen auf vertragliche Details. Londons "Exklusiv-Vertrag" übertrumpfe den der EU. In der "Financial Times" erklärte Hancock: "Das nennt man Vertragsrecht – so einfach ist das."
Trotz Proteste: Kein neuer Mechanismus für Impfstoffverteilung
So geschlossen sich die EU-Spitzen hinter die Ausfuhrverschärfungen stellen, so uneins sind die Staats- und Regierungschefs in der Frage, ob bei der Impfstoffverteilung ein „Korrekturmechanismus“ eingeführt werden soll. Seit Mitte März fordert Österreich gemeinsam mit Tschechien, Slowenien, Bulgarien, Kroatien und Lettland, die Verteilung von Impfstoff innerhalb der EU zu überdenken. Auf Twitter erklärte Kanzler Kurz: „Es braucht im Sinne der europäischen Solidarität eine faire Verteilung der Impfdosen.“ Andernfalls drohe die Spaltung in ein "Europa der zwei Klassen".
Neue Biontech-Lieferung soll Impfunterschiede ausgleichen
Die Impfstofflieferungen an die EU werden basierend auf einem Gipfelbeschluss gleichzeitig und gleichmäßig nach der Bevölkerungszahl an die Mitgliedstaaten verteilt. Anhand dieser Berechnung können die Länder ihren Anteil bestellen. Ein Mechanismus, der unterm Strich doch für eine unterschiedliche Impfquoten in der EU geführt hatte, so der Vorwurf. Zu einer Änderung des Systems soll es zwar nicht kommen, stattdessen soll den benachteiligten Staaten ein Ausgleich zukommen.
Bundeskanzlerin Merkel nahm die Debatte zum Anlass, um die europäische Impfstrategie zu verteidigen. Im Bundestag erklärte Merkel, sie wolle sich gar nicht vorstellen, was passiert wäre, wenn einige EU-Staaten Impfstoffe hätten und andere nicht. „Das würde den Binnenmarkt in seinen Grundfesten erschüttern.“
Türkei: EU setzt auf positive Agenda
Im Umgang mit der Türkei setzen die Staats- und Regierungschefs auf eine „positive Agenda“. Statt auf Konfrontation oder Sanktionen zu setzen, sollen auf diese Weise neue Anreize geschaffen werden, um die Zusammenarbeit mit der EU wieder zu verbessern. Ein Entgegenkommen, trotz der jüngsten Entwicklungen wie Ankaras Ausstieg aus der „Istanbul-Konvention“, die dem Schutz von Frauen vor Gewalt dienen soll.
Erdgas-Konflikt und Flüchtlingsabkommen: EU will Interessen durchsetzen
Mit dieser Ausrichtung verfolgt die Staatengemeinschaft zwei Ziele. Einerseits soll mit der „positiven Agenda“ deeskalierend auf den Erdgas-Konflikt im östlichen Mittelmeer einwirken. Außerdem will den EU den 2016 geschlossenen Flüchtlingspakt neu beleben.
Gespräch mit US-Präsident Biden am Abend
Am Abend richtet sich der Blick dann auf die Beziehungen zu den USA. Ratspräsident Charles Michel erklärte vor dem Gipfel, es sei an der Zeit, das transatlantische Bündnis neu aufzubauen. Das Weiße Haus teilte ebenfalls mit, in den Bereichen Pandemiebekämpfung, Klimawandel und in Wirtschaftsfragen verstärkt auf die Kooperation mit Europa setzen zu wollen. US-Präsident Joe Biden wird deswegen persönlich vor dem Europäischen Rat sprechen.
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