Eine Menschenschlange von hinten vor einem Wahllokal.
Bildrechte: picture alliance/Bernd Wüstneck/dpa

In Wahllokalen, in denen neben der Europawahl auch kommunal gewählt wurde, bildeten sich teilweise Schlangen vor den Wahllokalen.

Per Mail sharen
Artikel mit Bild-InhaltenBildbeitrag

#Faktenfuchs: Was ist bei der Europawahl schiefgelaufen?

Zur Europawahl gab es wie bei fast jeder Wahl Vorwürfe, sie sei nicht ordnungsgemäß abgelaufen. Der #Faktenfuchs hat beim Bundeswahlleiter nachgefragt, welche Vorwürfe tatsächlich einen Verstoß darstellen und welche nicht.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Müssen Urnen versiegelt sein?

Im Netz kursierten vor allem am Wahltag Fotos von nicht versiegelten Wahlurnen, manchmal mit der Bemerkung, das sei doch Wahlbetrug. Tatsächlich schreibt §44 der Europawahlordnung weder eine Versiegelung noch eine Verplombung der Wahlurnen vor. Verboten ist ein Siegel aber auch nicht. Manche Gemeinden bringen ein amtliches Papiersiegel auf den Urnen an.

Müssen Urnen verschlossen sein?

§44 der Europawahlordnung schreibt vor, dass die Wahlurne verschließbar sein muss. §46 (3) besagt: "Der Wahlvorstand überzeugt sich vor Beginn der Stimmabgabe davon, dass die Wahlurne leer ist. Der Wahlvorsteher verschließt die Wahlurne. Sie darf bis zum Schluss der Wahlhandlung nicht mehr geöffnet werden.“ Wenn die Wahlurne während der Wahl geöffnet wird, "wäre das ein Verstoß gegen die Europawahlordnung, gegen den ein Wähler Einspruch einlegen könnte“, sagt Bastian Stemmer, Mitarbeiter im Büro des Bundeswahlleiters.

Aus welchem Material müssen Urnen sein?

§43 der Europawahlordnung bestimmt nur die Abmessungen der Urne, nicht aber das Material. Insofern ist prinzipiell auch eine Wahlurne aus Pappe denkbar, wie sie in Bochum verwendet worden sein soll. Allerdings stellt sich hier die Frage, wie eine Urne aus Pappe verschlossen werden soll. Bastian Stemmer weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass es weitere Sicherungsmechanismen gibt, die eine Manipulation oder Öffnung der Urnen verhindern sollen: "Der Wahlvorstand besteht aus mehreren Personen. Außerdem ist die Wahlhandlung öffentlich, kann also von jedem beobachtet werden.“

Was passiert, wenn es zu wenig Stimmzettel gibt?

In Bochum gab es in 12 von 186 Wahllokalen nicht genügend Stimmzettel. Die genaue Prüfung dieses Vorfalles läuft noch. §42(3) der EuWO bestimmt, dass die Gemeindebehörde dem Wahlvorsteher eines jeden Wahlbezirks "amtliche Stimmzettel in genügender Zahl“ übergibt. Was genügend ist, ist nicht näher definiert. In der Praxis ist es aber nicht so, dass für jeden Wahlberechtigten ein Stimmzettel da ist, weil es praktisch nie eine 100-prozentige Wahlbeteiligung gibt. "Die Anzahl der Stimmzettel richtet sich nach Erfahrungswerten der letzten Wahlen“, sagt Stemmer. "Ob ein relevanter Wahlfehler vorliegt, wenn es keine Stimmzettel mehr gab, hängt davon ab, wie lange keine Stimmzettel ausgegeben werden konnten. Bei nur wenigen Minuten dürfte noch kein relevanter Wahlfehler vorliegen. Wer aufgrund fehlender Stimmzettel überhaupt nicht wählen konnte, kann Einspruch beim Deutschen Bundestag einlegen. Für ganz oder teilweise ungültig wird eine Wahl aber nur erklärt, wenn sich ein Fehler auf die Sitzverteilung ausgewirkt haben kann." Generell nehmen die Wahlorgane solche Hinweise sehr ernst und lassen sie in die Wahlnachbetrachtung einfließen, damit sich solche Vorfälle nicht wiederholen.

Mit welchem Stift darf gewählt werden?

Beschwerden darüber, dass im Wahllokal ein Buntstift oder sogar ein Bleistift, also nicht dokumentenechte Stifte ausliegen, gab es auch bei der Europawahl wieder. Beides ist rechtens, denn §43 der EuWO besagt nur, dass "in der Wahlkabine ein Schreibstift bereitliegen soll“. Zur Art des Stiftes lässt sich die EuWO nicht aus. "Man darf auch seinen eigenen Stift mitbringen“, sagt Bastian Stemmer. Auch hier verweist er auf die generellen Wahlsicherungsmechanismen: mehrere Wahlhelfer und öffentliche Auszählung.

Wie wird eine Beeinflussung vor dem Wahllokal verhindert?

Vor einem Wahllokal im Berliner Stadtteil Wilmersdorf sorgte ein Zettel mit der Aufschrift "AfD sind Neonazis“ für Aufsehen. Beobachter sahen darin eine unzulässige Wählerbeeinflussung. Eine feste Grenze, in welchem Abstand vom Wahllokal politische Plakate bzw. Meinungsäußerungen zulässig sind, gibt es nicht. "Das hängt von den örtlichen Gegebenheiten ab“, sagt Stemmer. "Wenn zum Beispiel das Wahllokal nur über einen schmalen Weg erreichbar ist, kann so ein Plakat als zu nah am Wahlraum eingestuft und vom Wahlvorstand entfernt werden", so Stemmer weiter. Im Berliner Fall ist das Anti-AfD-Plakat sofort entfernt worden.

Darf man noch wählen, wenn man nach 18 Uhr in der Schlange steht?

In Dresden und Jena gab es bei der Europawahl Fälle, in denen Wähler noch nach 18 Uhr in der Schlange standen. Während sich in Dresden Wahlhelfer an das Ende der bis auf die Straße reichenden Schlange stellten und alle Wähler in der Schlange noch wählen ließen, schickten die Wahlhelfer in Jena die vor dem Wahllokal Schlange stehenden Wähler nach Hause. Das ist rechtens, denn §53 der EuWo schreibt vor: "Sobald die Wahlzeit abgelaufen ist, wird dies vom Wahlvorsteher bekannt gegeben. Von da ab dürfen nur noch die Wähler zur Stimmabgabe zugelassen werden, die sich im Wahlraum befinden."

Die sächsische Landeswahlleitung wartet noch auf entsprechende Berichte der Wahlvorstände vor Ort. Ergänzend zu §53 EuWo weist man aber darauf hin, dass nach §48 der EuWo der Wahlvorstand "für Ruhe und Ordnung im Wahlraum zu sorgen hat und bei Andrang den Zutritt zum Wahlraum ordnet". Der jeweilige Wahlvorstand genießt also eine gewisse Flexibilität bei seiner Entscheidung – unter Berücksichtigung der örtlichen Gegebenheiten im Wahllokal.

Der Landeswahlleitung in Thüringen liegen nur in zwei der über 3.000 Wahlbezirke des Freistaats Beschwerden von 150 bis 160 Wahlberechtigten vor. In beiden Bezirken durften Wähler, die sich um 18 Uhr nicht im Wahlraum befanden, nicht mehr teilnehmen.

Karina Schorn, Büroleiterin des Bundeswahlleiters sagt: "Wahlraum heißt Wahlraum und nicht die Straße davor". In Sachsen und in Thüringen fanden jedoch gleichzeitig Kommunalwahlen statt, bei denen die Wähler mehrere Stimmen vergeben konnten, was als eine Erklärung für die Schlangen gesehen wird.

Die Europawahlordnung legt in §49 fest, "dass sich der Wähler nur so lange wie notwendig in der Wahlkabine aufhält“, trifft aber keine Aussage darüber, wie im Fall von zwei parallel stattfindenden Wahlen zu verfahren ist.

Wie wird eine Doppelwahl verhindert?

Bei Personen, die Staatsangehörigkeiten von zwei EU-Mitgliedsländern besitzen, findet "keine präventive Kontrolle“ statt, wie Bastian Stemmer sagt. "Hier wird dann jeder Einzelfall verfolgt“. Eine doppelte Stimmabgabe ist ein Straftatbestand. Ein solches Beispiel gab es bei der Europawahl 2014, als der Zeit-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo zugab, sowohl in Deutschland als auch in Italien gewählt zu haben. Die Staatsanwaltschaft Hamburg ermittelte damals wegen Wahlfälschung gegen di Lorenzo, stellte das Verfahren aber ein, nachdem di Lorenzo eine Geldbuße gezahlt hatte.

Bei Personen, die in einem EU-Mitgliedsstaat leben, aber die Staatsangehörigkeit eines anderes EU-Staates haben, findet schon ein Datenaustausch zwischen den beiden Staaten statt, um sicherzustellen, dass die Person nur in das Wählerverzeichnis eines der beiden Staaten eingetragen ist. Aber auch hier kann es Pannen geben, so wie jetzt bei der Europawahl: Ein Niederländer, der in Münster gemeldet ist, hatte zwei Wahlscheine bekommen: einen niederländischen und einen aus Münster. "Der Eintrag in das Wählerverzeichnis des Wohnsitzmitgliedstaates geht vor“, sagt Stemmer.

Gab es bei der Europawahl mehr Pannen als sonst?

Das lässt sich noch nicht sagen. Der Bundeswahlleiter sammelt noch die eingegangenen Meldungen über Pannen und Unstimmigkeiten. Diese werden in der nächsten Sitzung des Bundeswahlausschusses am 24. Juni besprochen. Dem Bundeswahlausschuss gehören neben dem Bundeswahlleiter acht Beisitzer aus sechs verschiedenen Parteien und zwei Richter an. "Nach der Wahl erörtert der Bundeswahlleiter mit den Landeswahlleitungen die eingegangenen Hinweise. Für Änderungen der Wahlrechtsvorschriften ist jedoch der Gesetz- oder Verordnungsgeber zuständig", sagt Stemmer.

Wie werden Wahlfehler geahndet?

Wer Unstimmigkeiten bei einer Wahl beobachtet zu haben glaubt oder sich in seinen subjektiven Rechten verletzt fühlt, kann beim Deutschen Bundestag einen Einspruch einlegen, der begründet werden muss. Der Wahlprüfungsausschuss (nicht zu verwechseln mit dem Bundeswahlausschuss) berät über den Einspruch, die endgültige Entscheidung trifft das Plenum des Bundestages. Der Bundestag erklärt Wahlen nur dann ganz oder teilweise für ungültig, wenn die Wahlfehler mandatsrelevant sind, sie also eine Auswirkung auf die Sitzverteilung haben. Bislang hat der Bundestag laut Bundeswahlleitung Bundestags- oder Europawahlen bisher weder ganz noch teilweise für ungültig erklärt.

Das #Faktenfuchs-Fazit: Die Europawahlordnung lässt den Kommunen, die für die Durchführung der Wahl verantwortlich sind, einigen Spielraum, was die Beschaffenheit der Urnen, der Stifte und sogar die Anzahl der Stimmzettel betrifft. Deswegen ist vieles rechtens, was Wahlbeobachter oder Wähler für einen Verstoß halten. Wer dennoch glaubt, einen Verstoß gegen die Wahlordnung beobachtet zu haben, kann beim Bundestag Einspruch einlegen. Aber selbst wenn dieser einen Wahlfehler anerkennt, wird das Wahlergebnis nur dann aufgehoben, wenn der Fehler so gravierend war, dass sich dadurch eine Veränderung bei den Sitzen ergeben würde. Das ist bei Bundestags- und Europawahlen noch nie passiert.