Illustration: Die Mutter des Täters
Bildrechte: Illustration: BR / Anna Hunger

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Die Toten auf der Balkanroute: "Warum hast du nicht angehalten?"

"Warum hast du nicht angehalten?“ Das fragt sich Neli jeden Tag. Ihr Sohn Ivajlo sitzt im ungarischen Szeged im Gefängnis - verurteilt zu 25 Jahren Haft. In seinem Schlepper-LKW erstickten im August 2015 im luftdichten Laderaum 71 Menschen.

Die 51-Jährige Neli lebt in Bulgarien. Sie ist Witwe und wohnt mit Tochter und Enkel zusammen. Ihr Sohn Ivajlo sitzt im ungarischen Szeged im Gefängnis, denn er wurde – nicht rechtskräftig – zu einer Freiheitsstrafe von 25 Jahren verurteilt: Wegen Schlepperei und Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung.

Ivajlo hält nicht an - obwohl er die Schreie hört

Im August 2015 fährt der heute 27-Jährige einen Kühllaster von Ungarn nach Österreich. In dem luftdichten Laderaum ersticken 71 Menschen qualvoll, darunter vier Kinder. Ivajlo hört die Flüchtlinge laut schreien und klopfen, doch er hält nicht an. Seine Mutter wähnt ihren Sohn damals in Deutschland, denn ihr hat er erzählt, er würde dort Möbel transportieren. Für 400 Euro pro Fuhre.

"Er hatte doch alles“

Die Mutter des Täters. Sie ist sofort bereit mit uns zu sprechen, als wir ohne Vorankündigung an ihrem Gartenzaun stehen. Sie möchte aber im Haus ihrer Cousine mit uns reden, denn Tochter und Enkel sollen nicht mithören. Ihre schwarzen Haare sind grau durchzogen und achtlos zusammengebunden. Sie ist klein und während sie redet, schaut sie oft aus dem Fenster. Sie wirkt müde und abgekämpft und ab und zu kommen ihr die Tränen. Für Gefühle scheint sie keine Kraft mehr zu haben.

Neli besitzt zwei kleine Häuser, doch das eine ist unbewohnbar und das zweite hat zurzeit keinen Strom, da die Rechnung nicht bezahlt ist. Ihr ganzes Geld habe sie für Anwälte ausgegeben, erzählt sie, doch diese hätten nichts getan. Ivajlo hatte doch alles, sagt Neli verzweifelt. Viele Jahre lebt die Familie in Neapel, wo Neli alte Menschen pflegt und putzen geht. Ihr Sohn Ivajlo kehrt dann aus Italien nach Bulgarien zurück, um dort wieder Fuß zu fassen. In seinem Heimatdorf betreibt er ein Café, seine Mutter kauft ihm mehrere Autos und er renoviert das Haus seines verstorbenen Vaters.

Ivajlo will das schnelle Geld machen

Während der Flüchtlingsbewegung 2015 will auch Ivajlo das schnelle Geld machen und lässt sich anwerben, von einem weiteren Bulgaren aus der Gegend. Dieser ist damals Teil der hierarchisch organisierten Schleppergruppe. Diese pfercht immer mehr Menschen in ihre Schlepperwagen und die Transporter werden so zur tödlichen Falle. Nach dem Tod der 71 Menschen wird nicht nur Ivajlo, sondern ein Teil der Gruppe gefasst und im ungarischen Kecskemét verurteilt.

"Es waren doch auch Kinder in dem LKW“

Ihr Sohn habe ein Verbrechen begangen und solle die Wahrheit sagen, sagt die Mutter. Sie drückt ihr Mitgefühl für die Opfer und deren Angehörige aus. „Warum hast du das getan? Es waren doch auch Kinder in dem LKW?“ Das fragt Neli ihren Sohn auch bei ihrem bisher einzigen Besuch im Gefängnis in Ungarn. Er antwortet, die anderen Schlepper hätten gedroht, ihn zu erschießen, sollte er anhalten, vermitteln sie ihm, wie Ivajlo seiner Mutter sagt. Sie möchte es zu gerne glauben. Ihr Sohn sei schuldig, doch als Jüngster und Schwächster der Schleppergruppe trage er weniger Schuld als die anderen. „Ich hoffe, dass Gott die Strafe wenigstens ein bisschen mildert, nicht aufhebt, sondern nur mildert,“ hofft sie mit Blick auf die Berufungsverhandlung im Sommer 2019. Doch die Frage wird sie wohl weiter quälen: „Warum hast du nicht angehalten?“