Boris Pistorius (SPD), Bundesminister der Verteidigung, beobachtet durch ein Fernglas die Nato-Übung "Griffin Storm" an, bei der etwa 1000 Bundeswehrsoldaten zusammen mit der litauischen Armee die Verteidigung der Nato-Ostflanke trainieren.
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Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) hat bei einem Besuch in Litauen angeboten, dort dauerhaft eine deutsche Brigade zu stationieren.

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Die Bundeswehr im Baltikum: Was Pistorius damit bezweckt

Verteidigungsminister Pistorius will eine deutsche Heeresbrigade dauerhaft in Litauen stationieren und so die NATO-Ostflanke stärken - für viele überraschend, von vielen begrüßt. Damit beginnt wohl militärisch und politisch ein ganz neues Kapitel.

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"Wir waren diejenigen, die sich stets darauf verlassen konnten, dass die NATO-Partner im Ernstfall uns zur Seite stehen würden und mit uns für unsere Freiheit und Sicherheit in Deutschland eintreten und kämpfen würden". Das sagte Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) bei einem Besuch in Litauen Anfang dieser Woche.

Ein immer wiederkehrendes Motiv

Deutschland, der ehemalige Frontstaat: ein Land, das nun seinen Partnern so beistehen müsse, wie es die Westmächte wohl einst hierzulande getan hätten. Auf diese und ähnliche Weise äußerte sich der Minister in den vergangenen Monaten immer wieder. Etwa auf der Münchner Sicherheitskonferenz oder am Rande von Truppenbesuchen. Die Sätze gleichen einem Motiv, das seine Reden durchzieht.

Folgt man dieser Logik, so ist die angedachte dauerhafte Stationierung deutscher Soldatinnen und Soldaten in Litauen nur konsequent. Aus Beobachterperspektive kam die Ankündigung in dieser Form dennoch überraschend. Auch aus Bundeswehrkreisen ist zu hören, dass kaum jemand mit einer solchen Entwicklung gerechnet hatte. In der Geschichte der Bundeswehr wird damit möglicherweise im Umfeld des NATO-Gipfels im Juli, der auch in Litauen stattfindet, ein ganz neues Kapitel aufgeschlagen.

Eine Brigade dauerhaft in Litauen

In Litauen ist die Bundeswehr bereits seit sechs Jahren präsent. Deutschland führt dort einen multinationalen Gefechtsverband der NATO und stellt für diesen aktuell etwa 800 Soldatinnen und Soldaten. Bislang wechselten die beteiligten Verbände allerdings etwa alle sechs Monate mitsamt ihres Materials. Die Verlegung gilt als logistisch aufwändig.

Im vergangenen Jahr hatte die Bundesregierung Litauen in Folge des russischen Angriffs der Ukraine zusätzliche Unterstützung in Form einer kompletten Kampftruppen-Brigade zugesagt. Vor Ort wurde aber nur ein Führungsstab mit etwa 20 Soldaten stationiert. Der Rest der Brigade blieb in Deutschland in Bereitschaft. Aus Litauen wurden in diesem Zusammenhang immer wieder Forderungen nach einer dauerhaften Stationierung laut. Eine kurzfristige Verlegung von Truppen aus Deutschland könnte bei einem russischen Angriff zu lange dauern, so die Befürchtung litauischer Politiker.

Durch die Absichtserklärung von Verteidigungsminister Pistorius herrscht in dieser Frage nun etwas mehr Klarheit. Vorbehaltlich einer Entscheidung der Nato will die Bundesregierung eine Heeresbrigade mit 4.000 Soldatinnen und Soldaten dauerhaft in Litauen stationieren. Der NATO-Oberbefehlshaber muss entscheiden, inwiefern diese Stationierung zu den Verteidigungsplänen der Allianz passt. Litauen will die nötige Infrastruktur bereitstellen. Auch das ist eine Bedingung der Bundesrepublik.

"Verstärkt Verteidigungsfähigkeit deutlich"

Aus Sicht des Innsbrucker Politikwissenschaftlers und Verteidigungspolitikexperten Gerhard Mangott verstärkt eine dauerhaft vor Ort stationierte Brigade die anderen Truppen im Land deutlich. Es handle sich um einen "substanziellen Kampfverband", sagte Mangott im Gespräch mit dem BR. Für die litauische Regierung sei es eine Art "Rückversicherung". Für die Bevölkerung dürfte die Präsenz der Soldatinnen und Soldaten auch psychologisch von Bedeutung sein.

Bereits im vergangenen Jahr hatte die NATO auf dem Gipfel von Madrid ein neues strategisches Konzept auf den Weg gebracht. Dieses sieht unter anderem vor, dass die Streitkräfte der Allianz bestimmten Regionen zugeordnet werden, um diese im Ernstfall verteidigen zu können. Das Militärbündnis will durch sein Vorgehen Signale der Abschreckung senden.

"Thema im Sinne Litauens und der NATO abgeräumt"

Der frühere Wehrbeauftragte und heutige Präsident der Gesellschaft für Sicherheitspolitik, Hans-Peter Bartels, sagte dem BR, er sei froh, "dass Pistorius das Thema im Sinne Litauens und der NATO abgeräumt hat". Die Obfrau der Grünen im Verteidigungsausschuss, Sara Nanni, rechnet damit, dass der NATO-Oberbefehlshaber das deutsche Angebot annehmen wird. Auch sie bewertete die Entwicklungen im Gespräch mit dem BR positiv. Die Übungsmöglichkeiten vor Ort bezeichnete sie aber als "Nadelöhr". Hier müsse Litauen in Abstimmung mit den anderen baltischen Staaten ausreichend Kapazitäten bereitstellen.

Kritik an den Stationierungs-Plänen kommt indes von der Partei "Die Linke". Zaklin Nastic, Obfrau ihrer Partei im Verteidigungsauschuss, schrieb auf Anfrage, die Bundesregierung setze mit dieser Ankündigung auf "militärische Eskalation statt auf Diplomatie".

Paradigmenwechsel für die Truppe

Jenseits aller politischen Bewertungen ist klar, dass es eine solche Form der Stationierung von Bundeswehrsoldaten im Ausland noch nie gegeben hat. Zwar gibt es zahlreiche Auslandsdienstposten, dauerhaft ist derzeit aber nur ein einziger Kampfverband jenseits der Landesgrenzen stationiert. Dabei handelt es sich um das Jägerbataillon 291 im französischen Illkirch-Graffenstaden. Die Gemeinde liegt allerdings unmittelbar an der Grenze zu Deutschland und nicht an der NATO-Ostflanke.

Aus der Sicht von Hans-Peter Bartels eignen sich derartige Dienstposten dennoch als "Muster" für die angedachte Stationierung einer deutschen Brigade in Litauen. Das Land sei nur ein anderer NATO-Partner. Für die Bundeswehr bedeuteten die Pläne eine "große aber sinnvolle Umstellung", so Bartels.

Viele offene Fragen

Tatsächlich scheint die Ankündigung des Verteidigungsministers viele in der Truppe überrascht zu haben. Das wird in Gesprächen mit Offizierskreisen deutlich. Die Liste der offenen Fragen ist dabei lang. Nicht bekannt ist derzeit etwa, wie sich die Brigade genau zusammensetzen soll. Ob also etwa Bundeswehrverbände komplett verlegt werden oder ob einzelne Dienstposten für eine bestimme Zeitspanne in Litauen besetzt werden – also ob beispielsweise einzelne Kompanien oder Soldaten dafür abgestellt werden sollen. Hier sind allerlei Gedankenspiele möglich. Aus dem Verteidigungsministerium heißt es auf Anfrage nur, zu Zeitabläufen und Truppenteilen gebe es noch nichts mitzuteilen.

Stationierungsfrage noch nicht geklärt

Ebenso offen sind die Stationierungsorte in Litauen. Zweifelsfrei müssten die Soldatinnen und Soldaten bereit sein, ihren Lebensmittelpunkt mit ihren Angehörigen für einige Zeit dorthin zu verlagern. In Gesprächen wird deutlich, dass diese Fragen vielen Soldatinnen und Soldaten unter den Nägeln brennen, zumal die Bundesregierung ohnehin zahlreiche große Ziele formuliert sowie eine vollständige Ausstattung der Truppe versprochen hat.

Die FDP-Verteidigungsexpertin Marie-Agnes Strack-Zimmermann äußerte in diesem Zusammenhang Zweifel an den Plänen. Es gehe nicht nur darum, die Soldatinnen und Soldaten dorthin zu schicken, "sondern auch deren Familien einen Alltag zu ermöglichen", sagte sie dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Dazu gehöre zum Beispiel die Frage, ob es in Litauen in Zukunft deutsche Schulen und Kindergärten gebe.

Der Vorsitzende des Deutschen Bundeswehrverbandes, Oberst André Wüstner, erklärte: "Die Stationierungsentscheidung der Bundesregierung inklusive der von Boris Pistorius gemachten Auflagen ist grundsätzlich nachvollziehbar. Zwischen Ankündigung und Realisierung liegen jetzt allerdings eine Menge Hausaufgaben für Litauen selbst, aber insbesondere für unser Verteidigungsministerium."

Truppenstationierungen "verhältnismäßig"

Deutlich klarer scheint die Position der Bundesregierung im Hinblick auf die NATO-Russland-Grundakte zu sein. In dieser Absichtserklärung hatten sich die NATO und Russland im Jahr 1997 Regeln für den künftigen Umgang miteinander gegeben.

Der Angriffskrieg Russlands stelle eine "tiefgreifende Missachtung der Werte und Prinzipien der NATO-Russland-Grundakte dar, zu denen unter anderem der Verzicht auf die Androhung und Anwendung von Gewalt sowie die Achtung der Souveränität, Unabhängigkeit und territorialen Unversehrtheit aller Staaten gehören", schrieb ein Sprecher des Verteidigungsministeriums.

Die Truppenstationierungen auf dem Gebiet der östlichen NATO-Alliierten seien angemessen und verhältnismäßig. Sie "erfolgen in Reaktion auf die von Russland verursachte deutliche Verschlechterung des Sicherheitsumfelds, insbesondere im Vergleich zu 1997". Deutschland bekenne sich weiterhin zu den grundlegenden Prinzipien der NATO-Russland-Grundakte. Weder Deutschland noch die NATO hätten diese einseitig aufgekündigt oder widerrufen.

NATO-Russland-Grundakte "Makulatur"

Nach Beobachtung von Politikwissenschaftler Gerhard Mangott ist das Dokument nach dem russischen Angriff der Ukraine für die NATO aber unerheblich geworden. Die Zusicherungen seien praktisch nicht mehr relevant, auch wenn die Grundakte niemand für tot erkläre. Hans-Peter Bartels bezeichnete das Dokument als "Makulatur". Es sei durch den russischen Angriff der Ukraine "in der Luft zerfetzt worden".

Video: Was ist eigentlich das Baltikum?

Aussicht von der Petrikirche auf die Stadt Riga. Links der Rigaer Dom.
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Was ist eigentlich das Baltikum?

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