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Armut in Deutschland

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Armut in Deutschland - was will die GroKo dagegen tun?

Die Arbeitslosigkeit in Deutschland ist seit langem rekordverdächtig niedrig. Von diesen positiven Entwicklungen können aber nicht alle profitieren: Die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich immer mehr. Was will die neue GroKo dagegen tun?

Über dieses Thema berichtet: BR24 im Radio.

Nach fast einem halben Jahr schwieriger Regierungsbildung will die neue Große Koalition endlich loslegen: Aufbruchstimmung am Montag bei der Unterzeichnung des Koalitionsvertrags:

"Wir wollen das Wohlstandversprechen der sozialen Marktwirtschaft erneuern. Der Wohlstand unseres Landes muss bei allen Menschen ankommen." Bundeskanzlerin Angela Merkel

Reiche werden noch reicher

Die Realität sieht anders aus. Der Wohlstand kommt vor allem bei den bereits Wohlhabenden an. Nach Angaben des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung DIW wird die Schere zwischen Arm und Reich seit dem Krisenjahr 2009 wieder größer. Die mittleren Einkommen konnten in den vergangenen Jahren leicht zulegen, die hohen Einkommen stiegen kräftig an. Die unteren Einkommen aber sind inflationsbereinigt sogar gesunken.

Die Reichen werden reicher, die Armen ärmer. Armutspolitisch seien die letzten vier Jahre verlorene gewesen, schimpfen die Sozialverbände. Die SPD sah das im vergangenen Sommer bei der Bilanz der letzten Großen Koalition anders.

"Wir haben tatsächlich in den letzten vier Jahren eine ganze Menge erreicht, zum Beispiel mit der Einführung des gesetzlichen Mindestlohnes. Der hat zumindest mal dazu geführt, dass der Missbrauch von Minijobs zur Lohndrückerei ein Stück weit gestoppt wurde." Hubertus Heil, damaliger SPD-Generalsekretär

1,2 Millionen Menschen in Deutschland müssen aufstocken

Der gesetzliche Mindestlohn hat geholfen, Minijobs in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung umzuwandeln. Trotzdem können immer noch knapp 1,2 Millionen Menschen in Deutschland nicht von ihrer Arbeit leben. Sie müssen zusätzlich staatliche Leistungen in Anspruch nehmen, obwohl sie einen Job haben. Sie sind sogenannte "Aufstocker". Von ihnen gibt es nur acht Prozent weniger als vor der Einführung des Mindestlohns.

Der Mindestlohn ist so angelegt, dass ein alleinstehender Arbeitnehmer gerade so davon leben kann, wenn er Vollzeit arbeitet. Wer Kinder oder Partner mitversorgt oder nicht Vollzeit arbeiten kann, muss beim Mindestlohn mit staatlichen Leistungen aufstocken, um das Existenzminimum zu erreichen.

Forderungen nach höherem Hartz-IV-Satz

Das monatliche Existenzminimum wird mit dem Hartz-IV-Regelsatz sichergestellt. Der liegt aktuell bei 416 Euro pro Erwachsenem, Miete und Heizung werden extra bezahlt. Viel zu wenig, sagt Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbands. Er fordert 520 bis 560 Euro pro Monat.

"Ein großer armutspolitischer Wurf ist im neuen Koalitionsvertrag nicht zu erkennen. Was Armutspolitik angeht, kann man nicht mal sagen, er ist halbherzig. Wenn es das Wort gäbe, könnte man sagen, er ist viertelherzig. Wir sehen nicht die entscheidenden Schritte, um Armut in Deutschland zu bekämpfen. Zu den Hartz-IV-Regelsätzen findet sich in diesem Koalitionsvertrag nicht ein müdes Wort." Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer Paritätischer Wohlfahrtsverband

Aber die Rente ist Thema im neuen Koalitionsvertrag. Die SPD hat die Grundrente durchgesetzt. Wer mindestens 35 Beitragsjahre hat, bekommt künftig eine Rente, die 10 Prozent über dem Existenzminimum liegt. Experten gehen aber davon aus, dass maximal nur jeder fünfte notleidende Rentner davon profitiert.

Die Grundrente - an der Realität vorbeigeplant?

Die meisten armen Rentnerinnen und Rentner kommen eben nicht auf mindestens 35 Beitragsjahre – zum Beispiel, weil sie Kinder groß gezogen haben oder arbeitslos waren. Und auch die ausgeweitete Mütterrente im Koalitionsvertrag, die der CSU wichtig war, nimmt nur eine ganz spezielle Rentnerinnen-Gruppe ins Blickfeld.

Das größte Armutsrisiko in Deutschland haben aber nicht die Rentner, sondern alleinerziehende Mütter und Väter. Sie sind am Arbeitsmarkt oft benachteiligt, auch weil es zu wenig und zu unflexible Betreuungsmöglichkeiten für Kinder gibt. Das hat die neue GroKo erkannt und im Koalitionsvertrag einen Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung verankert.

"Wir wollen, dass Eltern auch während der Grundschulzeit der Kinder einen Anspruch darauf haben, dass ihre Kinder gut betreut sind. Auch dafür werden wir Bundesmittel zur Verfügung stellen." Angelika Niebler, bayerische Vorsitzende der Frauen-Union

Wie viel Geld genau benötigt wird, um jedem Elternpaar diesen Rechtsanspruch zu garantieren, ist unklar. Fakt ist: Es gibt aktuell viel zu wenige Erzieherinnen und Erzieher, um die Kinderbetreuung dementsprechend auszuweiten.

"Es ist eher ein Abwerbe-Wettbewerb unter den verschiedenen Trägern. Jeder, der zusätzlich da ist, muss neu ausgebildet werden. Da sprechen wir in jeder Kommune über 20 bis 50 neue Kräfte. Wenn Sie das hochpotenzieren auf ganz Deutschland, da kommen Sie auf riesige Zahlen." Christian Haase, kommunalpolitischer Sprecher der Unionsfraktion

Kritik: Ausbildung und Familie passen noch nicht zusammen

Ulrich Schneider vom Paritätischen Wohlfahrtsverband lobt den Rechtsanspruch auf Betreuung als richtigen Schritt. Auch wenn das seiner Meinung nach eher nicht hilft, bereits bestehende Armut zu beseitigen.

"Es wird ja häufig der Eindruck erweckt, als habe man es bei Hartz-IV mit top ausgebildeten Frauen zu tun, denen lediglich ein Kindergartenplatz fehlt. Das stimmt natürlich überhaupt nicht. Die Alleinerziehenden in Hartz-IV, denen wir helfen müssen, haben zu einem ganz großen Teil keinen Berufsabschluss und zu einem ebenfalls großen Teil nicht mal einen Schulabschluss. Wenn man hier was tun will, muss man - und da hapert’s in Deutschland noch - Ausbildung und Familie unter einen Hut bringen. Also: Wie bekomme ich bei jungen Frauen hin, dass sie nicht ihre Ausbildung abbrechen müssen, wenn das Kind kommt." Ulrich Schneider

Denn Arbeit, von der man leben kann - da sind sich alle Experten einig -, ist langfristig der beste Schutz vor Armut.