Die Historikerin Eva Karl sitzt an einem Schreibtisch mit zeitgeschichtlichen Dokumenten.
Bildrechte: BR/Richard Padberg

Eva Karl ist Teil einer Historikerkommission, die sich der Aufarbeitung der NS-Zeit in Coburg widmet.

Per Mail sharen
Artikel mit Audio-InhaltenAudiobeitrag

Zur Unzeit voraus – Stadt Coburg stellt sich NS-Geschichte

In Coburg wehten die Hakenkreuzfahnen an öffentlichen Gebäuden früher als in anderen Städten. Doch warum war ausgerechnet Coburg ein solcher Nährboden für die Idee des Nationalsozialismus? Eine Historikerin sucht im Auftrag der Stadt nach Antworten.

Über dieses Thema berichtet: regionalZeit - Franken am .

Der Gang in das Staatsarchiv in Coburg ist für Eva Karl inzwischen Routine – die promovierte Historikerin hat in den vergangenen Jahren unter anderem im Lesesaal des Archivs hunderte Quellen gesichtet und Dokumente studiert. Immer angetrieben von der Frage: warum ausgerechnet Coburg? Eva Karl ist am Institut für Zeitgeschichte in München angestellt und durchleuchtet im Auftrag der Stadt Coburg das dunkelste Kapitel der Stadtgeschichte: die Zeit des Nationalsozialismus. Karls Ergebnisse werden im kommenden Jahr in einem wissenschaftlichen Buch veröffentlicht.

Ein Ausgangspunkt: Das Ende des Herzogtums Coburg

"In Coburg hat nach dem Ende des Ersten Weltkriegs eine 'fatale Gemengelage' geherrscht, der den frühzeitigen Aufstieg der NSDAP begünstigt hat", erklärt Karl. Nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg und dem Ende des Herzogtums Coburg seien in der Bevölkerung, mehr als andernorts in Deutschland, Unsicherheiten und Orientierungslosigkeit aufgekommen. Die lokale Politik habe auf viele aktuelle Fragen keine Antworten geben können – viele Menschen hätten diese und eine vermeintlich verloren gegangene Führung dann im Nationalismus gesucht.

Der 1918 abgedankte Coburger Herzog Carl Eduard "hat in den unruhigen Jahren eine besondere Rolle gespielt", erklärt Historikerin Karl. Carl Eduard habe auch nach der Abdankung noch Strahlkraft auf die Bevölkerung besessen und sich ganz offen zu den völkischen Verbänden in Coburg bekannt. "Das hat den Prozess angefeuert", so Karl.

"Deutscher Tag" und Hitlers Auftritt in Coburg befeuern Radikalisierung

Im Oktober 1922 fand in Coburg der völkische "Deutsche Tag" statt, zu dem auch Adolf Hitler und seine Schlägertrupps der SA aus München im "Zug nach Coburg" anreisten und erstmals außerhalb der Landeshauptstadt ihre fatale Wirkung ausprobierten. In blutigen Straßenkämpfen mit Gegendemonstranten erprobten die Nationalsozialisten erfolgreich, öffentlichen Raum mit Gewalt einzunehmen. Überliefert ist in diesem Zusammenhang ein späteres Zitat Hitlers: "Mit Coburg habe ich Politik gemacht."

Hitlers Auftritt während des "Deutschen Tags" in Coburg hat laut Karl den Ausgangspunkt für einen Mythos geliefert. Der wiederum hat Coburg zu einem Vorreiter gemacht und die Stadt in der Rückschau wieder an den Beginn einer neuen, aufstrebenden Bewegung gestellt, so Karl. Dies sei dem Geltungsbedürfnis der Coburger in dieser Zeit sehr nachgekommen, die stolz gewesen seien, dass ihre Stadt später in Hitlers "Mein Kampf" Erwähnung fand. "Der Auftritt Hitlers hat zudem besonders den radikalen Kräften im völkischen Lager Auftrieb gegeben", erklärt Karl.

Coburg für Hitler und die NSDAP ein "Experimentierfeld"

Für Hitler und die NSDAP sei Coburg ein "Experimentierfeld" gewesen, so Karl - nicht nur in der Frage, wie man öffentlichen Raum mit Gewalt einnimmt. Coburg sei auch Blaupause für Methoden der Machtübernahme auf legalem Weg gewesen, erklärt die Historikerin. Diese seien in Coburg vorexerziert und in Rücksprache mit der Zentrale der NSDAP in München koordiniert worden. Die Drangsalierung politischer Gegner bis zur Aufgabe wurde etwa in Coburg ausprobiert und dann später reichsweit angewandt.

Aufstieg der NSDAP in Coburg mit Hitler-Anhänger verknüpft

Der Aufstieg der NSDAP in den 1920er-Jahren in Coburg ist eng mit Franz Schwede verknüpft, einem glühenden Anhänger Hitlers und laut Karl die "zentrale Steuerungsfigur und die Person, die Coburg zur ersten nationalsozialistischen Stadt Deutschlands gemacht hat". Der NSDAP-Politiker habe in der Stadt eine sehr straffe Parteiorganisation ins Leben gerufen, Netzwerke über Coburg hinaus geschaffen und sich selbst, auch durch einen fingierten Skandal, zu einer zentralen Führerfigur ausgestaltet. 1931 wurde Schwede schließlich Dritter Bürgermeister, zwei Jahre später Oberbürgermeister. Ab 1934 wurde er Gauleiter der NSDAP in Pommern, blieb aber in Coburg präsent. Parallel zu dem damals geläufigen "Wenn das der Führer wüsste …", habe sich in Coburg der Ausspruch "Unter Schwede wäre das nicht so gekommen …" etabliert, berichtet Karl.

Wandlung der Vorreiterrolle in vorauseilenden Gehorsam

"Im weiteren Verlauf der NS-Zeit hat sich in Coburg die Vorreiterrolle zu einer Veranlagung zum vorauseilenden Gehorsam gewandelt", so Historikerin Karl. Auf allen Gebieten der Stadtpolitik oder innerhalb der Partei habe man "dem Führer entgegenarbeiten" und den Anspruch, Vorreiter zu sein, vorleben wollen. Exemplarisch dafür stehe das Zitat Schwedes "Coburg voran". Eine Bevorteilung der Stadt Coburg während des Dritten Reichs sei allerdings eher symbolisch gewesen. An den Jahrestagen des "Deutschen Tages" von 1922 sei groß gefeiert worden. Doch dadurch, dass die Verdienste der Stadt in der NS-Zeit bereits in der Vergangenheit lagen, sei die konkrete politische Macht für Coburg weit hinter den Erwartungen der Coburger zurückgeblieben, berichtet Karl.

Aufarbeitung und Erinnerung setzen verspätet ein

Nach dem Ende der NS-Zeit habe sich auch in Coburg ein großes Schweigen über die Ereignisse der vergangenen Jahre gelegt, berichtet Karl. Erste Hinweise auf das große Unrecht seien in den 1950er-Jahren durch Prozesse am Landgericht in Coburg gegen Beteiligte an Prügelexzessen ans Licht gekommen. Wie vielerorts seien es dann auch in Coburg die Initiativen von engagierten Bürgerinnen und Bürgern gewesen, die den Mantel des Schweigens brechen wollten. Diese hätten die Stadt dann sehr viele Jahre nach Kriegsende auf diesen schwierigen, schmerzhaften Weg der Konfrontation mit der eigenen Geschichte gebracht. "Der dann angestoßene Prozess hat unweigerlich Fragen nach Schuld, Kämpfe um Deutungshoheit und auch persönliche Befindlichkeiten auf die Tagesordnung gebracht", so Karl. Teil des Prozesses sei es dann aber auch gewesen, dass die Stadt im Jahr 2015 ein wissenschaftliches Aufarbeitungsprojekt investieren wollte – nämlich in die Arbeit einer Historikerkommission, zu der auch Karl gehört. Für dieses Projekt hofft sie, dass ihre Arbeit zur Ausdifferenzierung der Debatten beitragen kann.

SPD-Oberbürgermeister Dominik Sauerteig leitet aus Coburgs Geschichte einen Auftrag ab. Auch heute lebe man in politisch bewegten Zeiten. Deshalb sei die Vergangenheit Mahnung für die Gegenwart und die Zukunft. Man konzentriere sich sehr darauf, dass Spaltung und Hetze in Coburg keinen Platz mehr bekommen, so Sauerteig. Dazu beitragen soll unter anderem das Werk Karls.

Aufarbeitung geht vielfältig weiter

Die Aufarbeitung der NS-Zeit in Coburg ist ein Schwerpunkt der Arbeit von Can Aydin, Dritter Bürgermeister und Leiter des Kulturreferats der Stadt Coburg. Im vergangenen Jahr habe die Stadt ein Zeichen gesetzt und einen Platz in der Innenstadt in Ilse-Kohn-Platz benannt, so der SPD-Politiker im Gespräch mit BR24. Ilse Kohn war eine Coburger Jüdin, die deportiert und im Konzentrationslager von den Nazis ermordet wurde. Weitere sichtbare Projekte sollen folgen. Sein Amt für Kultur, Schule und Bildung sei beauftragt worden, einen Gedenkweg für das jüdische Leben zu konzipieren, das in Coburg ausgelöscht wurde, so Aydin; die Planung laufe bereits. Zudem seien im Stadtgebiet bereits mehr als 120 Stolpersteine verlegt worden. Ende des Monats und im kommenden Jahr sollen weitere folgen. Auch in öffentlichen Vortragsreihen soll die Aufarbeitung vorangetrieben werden.

Buch zur Coburger NS-Geschichte soll 2024 fertig sein

Die Aufarbeitung der NS-Zeit in Coburg ist umfangreich und aufwändig – das Buch der Historikerin Eva Karl soll im kommenden Jahr fertig werden. Auf mehr als 750 Seiten wird dabei das dunkelste Kapitel der Coburger Stadtgeschichte durchleuchtet werden. Es sei die Verpflichtung der Stadt Coburg, immer wieder an die Geschichte zu erinnern und somit zu verhindern, dass sich dieses wiederhole, so der Dritte Bürgermeister Can Aydin.

Das ist die Europäische Perspektive bei BR24.

"Hier ist Bayern": Der BR24 Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht’s zur Anmeldung!