Lawinenhund beim Orten eines Lawinenopfers
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Im Risikomanagement bei Lawinen ist Prävention alles - damit Suchhunde erst gar nicht zum Einsatz kommen.

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So lesen Sie den Lawinenlagebericht richtig

Wer Tiefschnee sucht, braucht vorher eine klare Risikoabschätzung. Das zentrale Tool dazu ist der Lawinenlagebericht. Was in dem Bericht steht, wie man ihn richtig liest und am besten für die eigene Tourenplanung anwendet. Ein Überblick.

Über dieses Thema berichtet: Rucksackradio.

Franziska Ehrnsperger ist Geografin und arbeitet beim Lawinenwarndienst Bayern. Wenn sie den Lagebericht schreibt, sammelt sie Informationen und Daten von 20 Messstationen, 350 ehrenamtlichen Mitarbeitern und dem Deutschen Wetterdienst und beurteilt danach die aktuelle Warnlage. Für jeden Tag im Winter gibt es einen neuen Lawinenlagebericht.

Wer bei Schnee in den Bergen unterwegs sein will, sollte den vor der Tour genau lesen - spätestens am Vorabend der Tour. "Weil man abends Zeit hat, eventuell noch einmal umzuplanen oder eine Tour auszuwählen, die für den Lagebericht angemessen ist", sagt Ehrnsperger.

Woraus der Lagebericht besteht

Ob in einer App, auf der Website oder als E-Mail-Newsletter: Der Lagebericht besteht immer aus denselben Bestandteilen. Ganz oben sieht man die Karte mit Bayerns Alpenregionen von den Allgäuer bis zu den Berchtesgadener Alpen. Darin sind - auf den ersten Blick ersichtlich - die Gefahrenstufen für die einzelnen Regionen farblich markiert. Rechts daneben gibt es eine Reihe von Symbolen, die die konkreten Lawinenprobleme, besonders betroffene Hangexpositionen und auch die Höhenlagen angeben. Darunter kommt das Allerwichtigste: der Text, der nicht nur die herrschenden Gefahrenmuster genau beschreibt, sondern auch den Schneedeckenaufbau und die Tendenz für die Lawinengefahr am Folgetag ausgibt. Will man die Lage wirklich verstehen, gehört das alles mit dazu, und nicht nur ein schneller Blick auf die Warnstufe.

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Die Lawinenwarnstufen werden in den einzelnen Alpenregionen farblich markiert.

Die Lawinenwarnstufen

Die fünf Lawinenwarnstufen sind für Europa einheitlich festgelegt, wobei bei Stufe eins das geringste und bei Stufe 5 das größte Risiko herrscht. Dahinter liegt nicht einfach nur eine linear wachsende Gefahr, sondern eine Matrix aus verschiedenen Dimensionen.

Geringe Lawinengefahr

Sobald in Bayerns Bergen zum ersten Mal richtig viel Schnee fällt, gibt das Team von der Lawinenwarnzentrale rund um Franziska Ehrnsperger täglich einen Lawinenlagebericht heraus. Im Winter 2021/22 war das der 4. Dezember. Ein gewisses Lawinenrisiko herrscht seither eigentlich immer, sagt Franziska Ehrnsperger - sogar bei Warnstufe eins. "Geringe Lawinengefahr bedeutet nicht, dass es keine Lawinengefahr gibt. Es geht meistens nur um kleine Lawinen. Und da ist aber dann meistens die Absturzgefahr größer. Gerade bei harter Schneeoberfläche kann das ganz schön schlecht ausgehen." Auch kleine Lawinen können eine Länge von bis zu 50 Metern haben und 100 Kubikmeter Schnee fassen.

Mäßige Lawinengefahr

Da können bereits große Lawinen entstehen, wenn auch meist nur mit großer Zusatzbelastung. Einzelne Personen können bereits Lawinen auslösen. Deshalb ist es sinnvoll, unterwegs Maßnahmen zu treffen, die das Risiko eines Abgangs reduzieren, etwa Entlastungsabstände in steilen Hängen einhalten.

Lawinen gehen oftmals dann ab, wenn empfindliche Schichtungen in der Schneedecke gestört werden. Und das Ausmaß einer Störung hängt stark mit dem Gewicht zusammen: Es kann sein, dass eine Einzelperson zu Fuß mehr stört als eine Einzelperson auf Ski, weil sich das Gewicht auf eine größere Fläche verteilt. Ähnlich ist es auch mit Gruppen: Wenn alle nah hintereinandergehen, bringen sie mehr Gewicht in den Hang. Auch Stürze spielen in vielen Lawinenauslösungen eine Rolle.

Erhebliche Lawinengefahr

Gefahrenstufe 3 ist diejenige, bei der statistisch die meisten Lawinenunfälle passieren. Einfach deshalb, weil sie unterschätzt wird. Dabei ist die Lawinengefahr bei einem "Dreier" schon relativ hoch. Man kann oft schon von großen Lawinen sprechen, die man auch als Einzelner auslösen kann oder die sich auch von selbst lösen können.

Außerdem treten auf Tour bereits häufiger Alarmzeigen wie Wummgeräusche oder "Shooting Cracks" auf. Steilhänge, die im Lagebericht genannt werden, sollte man auf jeden Fall meiden. Sicherheitsabstände sind Pflicht, und zwar sowohl im Aufstieg, wie bei der Abfahrt. Dadurch kommt weniger Zusatzbelastung in den Hang. Außerdem kann man sich im schlimmsten Fall – bei einem Lawinenabgang – gegenseitig helfen. Und Kameradenrettung ist bei einer Lawinenverschüttung eigentlich die einzige Überlebenschance. Denn statistisch gesehen zählt die erste Viertelstunde nach der Verschüttung.

Große Lawinengefahr

Bei Gefahrenstufe vier geht es um die Auslösung von großen und sehr großen Lawinen. Die können sich mit geringer Zusatzbelastung lösen oder auch von selbst. Häufig gibt es Gefahrenzeichen wie laute Wumm-Geräusche, außerdem muss man mit Fernauslösungen rechnen. Wer jetzt noch unterwegs ist, sollte steiles Gelände komplett meiden, außerdem die Auslaufflächen großer Lawinen.

Sehr große Lawinengefahr

Lawinenwarnstufe fünf ist bei uns in Bayern tatsächlich extrem selten. Laut Archiv des Lawinenwarndienstes gab es einen "Fünfer" in Bayern zuletzt im März 2000. Oder auch rund um die Lawinenkatastrophe von Galtür im Februar 1999. Bei der größeren Schneelage vor drei Jahren, oder auch 2006, als wegen der Schneelast die Eishalle in Bad Reichenhall eingestürzt ist, hatte es immer "nur" Warnstufe 4.

Triebschnee

Neben den Gefahrenstufen haben die europäischen Lawinenwarndienste fünf Lawinenprobleme benannt: Neuschnee, Altschnee, Triebschnee, Gleitschnee und Nassschnee.

Triebschnee ist eine der häufigsten Lawinengefahren und entsteht immer dann, wenn es Wind in Kombination mit verfrachtbarem Schnee gibt. Ab 15 Stundenkilometer fängt der Wind an, den Schnee mitzunehmen, ab 30 Stundenkilometer werden bereits größere Triebschneemengen verfrachtet und leeseitig in gebundener Form abgelegt. Die ideale Voraussetzung für Schneebrettlawinen. Der Vorteil: Triebschnee lässt sich, sofern er nicht überschneit ist, gut erkennen. Es gilt, im Gelände nach Windzeichen wie Wechten, Windgangeln oder Dünung im Schnee zu suchen. Wer geschult ist, sieht das ziemlich schnell.

Gleitschnee

Bei Gleitschnee, geht es darum, dass die Schneedecke bis zum Boden hin nass ist. Das kann passieren, wenn Wärme aus dem Boden aufsteigt, etwa im Herbst, wenn der Untergrund noch warm ist. Oder wenn – besonders im Frühjahr - durch Sonne oder Regen Wärme von oben in den Schnee kommt. Dann kann die Schneedecke auf glatten und steilen Hängen ins Rutschen kommen. Gleitschneerisse in Form von sogenannten Fischmäulern zeigen, wo die Gefahrenstellen liegen. Bereiche unterhalb sollte man unbedingt meiden. Außerdem schadet es nicht, wenn man die Tour vom Sommer her kennt und dadurch weiß, ob der Schnee auf einem glatten Grashang liegt.

Neuschnee

Das Neuschneeproblem wird vom Lawinenwarndienst immer dann ausgegeben, wenn es viel Neuschnee gibt. Der stellt eine große Zusatzbelastung für die Schneedecke dar. Und wenn es an der Oberfläche eine Schwachschicht wie etwa Oberflächenreif gibt, kann der Neuschnee auf der bestehenden Schneedecke leicht abrutschen. Die größte Lawinenaktivität entsteht meistens dann, wenn nach dem Schneefall das erste Mal die Sonne scheint.

"Eine Zahl ist relativ gut erforscht, das sind diese 30 Grad Hangneigung. In der Regel brauche ich ein steileres Gelände als 30 Grad für einen Lawinenabgang", sagt Franziska Ehrnsperger vom Lawinenwarndienst Bayern.

Allerdings gelten die 30 Grad Hangneigung nicht nur für den Platz, an dem man steht, sondern für den steilsten Punkt im Hang. Mit dem bloßen Auge ist das kaum abzuschätzen. Für eine grobe Peilung hilft die Wasserwaage-App: Skistock auf den Schnee legen, Handy drauf, Neigung ablesen. Außerdem weisen moderne Touren-Apps die Hangneigung auf ihren Karten farblich aus. Das hilft bei der Planung zu Hause.

Altschnee

Das Altschneeproblem ist besonders tückisch, weil man es von außen nicht erkennen kann. Es geht dabei um Schwachschichten, die tiefer in der Schneedecke verborgen liegen und zum Teil sehr langlebig sind. Deshalb sollte man bei Altschneeproblematik unbedingt defensiv planen. Sehr steile Hänge sind tabu. Auch deshalb, weil es durch tiefer liegende Schwachschichten zu sehr großen Lawinen kommen kann. Selbst entdecken kann das Altschneeproblem eigentlich nur, wer vor Ort in den einzelnen Hang gräbt. "Vor allem im Hochgebirge ist das relevant. Wenn man gräbt und es einem schon so entgegen rieselt, dann weiß man, dass sich da eine besonders störanfällige Schicht versteckt hat", sagt Franziska Ehrnsperger. Besonders gefährlich sind da die Übergangsbereiche von viel zu wenig Schnee, weil dort die sonst tief liegende Schwachschicht näher an der Oberfläche liegt und von Wintersportlerinnen und Wintersportlern auch wirklich gestört werden kann.

Nassschnee

Das Nassschneeproblem wird meistens im Frühjahr ausgegeben, oder nach viel Regen und Erwärmung. Es gibt dann eine Art Zweiteilung in Sachen Lawinengefahr. Entweder es regnet, dann sind alle Hangexpositionen am Berg betroffen. Oder die Sonne scheint, dann wird es hauptsächlich in sonnenbeschienenen Hängen und mit Tagesverlauf gefährlich. Schmelzprozesse und Feuchtigkeit ziehen dann einen Festigkeitsverlust in der Schneedecke nach sich und können zum Abgleiten des Schnees führen. Zum Teil werden auch Schwachschichten noch weiter instabil, was zu Schneebrettlawinen führen kann.

Gut erkennbar ist das Nassschneeproblem besonders im Frühjahr. Nach kalten, wolkenlosen Nächten ist die Schneeoberfläche hart gefroren. Der ideale Zeitpunkt für den Aufstieg, weshalb man bei Frühjahrsverhältnissen am besten sehr früh auf Tour startet. Wenn man dann mit den Füßen oder dem Ski immer weiter einsinkt, ist das ein klares Alarmzeichen für Nassschnee.

Wissen ist Macht

Schnee- und Lawinenkunde sind etwas sehr Komplexes. Dieses Level zu erreichen, sollte jedoch Ziel und Ansporn aller Wintersportlerinnen und Wintersportler sein, die abseits gesicherter Pisten unterwegs sind: den Lawinenlagebericht anwenden, Einzelhänge beurteilen, Windzeichen lesen, Schneeprofile graben, verstehen und auf die Tourenplanung übertragen. Alle alpinen Verbände bieten Kurse rund um Lawinen an, private Ski- und Bergschulen auch. Besonders wichtig ist aber auch das Verhalten in der Gruppe: Austausch mit Tourenpartnerinnen und -partnern, den Abgleich machen zwischen Lagebericht und Situation vor Ort, aktiv und immer wieder, rät Franziska Ehrnsperger vom Lawinenwarndienst Bayern.

Der Inhalt stammt aus dem Bayern 2-Podcast "Bergfreundinnen" - zu finden hier und überall, wo es Podcasts gibt.

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