Mädchen mit Zeugnis in der Hand
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Stigma im Zeugnis? Münchner klagen gegen Legasthenie-Hinweis

"Rechtschreibleistungen wurden nicht bewertet" – durch diesen Legasthenie-Hinweis in ihren Zeugnissen fühlten sich drei Münchner Abiturienten bei der Jobsuche benachteiligt. Jetzt entscheidet das Bundesverfassungsgericht für Zehntausende Betroffene.

Über dieses Thema berichtet: radioWelt am .

Der Kläger will nicht als Legastheniker identifiziert werden. Einem Interview zu seiner Klage stimmt er deshalb nur unter Bedingungen zu. Keine Fotos. Und auch die Fernsehkamera bleibt aus. Nur per Telefon ist der Mann zu erreichen, der vor dem höchsten deutschen Gericht eine kleine Zeugnis-Revolution lostreten will. Ihm geht es darum, dass eine Lese- und Rechtschreibstörung künftig nicht mehr in Zeugnissen erwähnt werden darf.

Als der heute 32-Jährige in München sein Abitur gemacht hat, war genau das der Fall: "Rechtschreibleistungen wurden aufgrund einer fachärztlich festgestellten Legasthenie nicht bewertet", hieß es zunächst. Dagegen klagte er zusammen mit zwei weiteren Münchner Abiturienten. Zwar wurde daraufhin der Hinweis auf die "fachärztlich festgestellte Legasthenie" gestrichen. Doch es blieb beim Hinweis, wonach die Rechtschreibung nicht bewertet wurde.

"Vorsicht, ich habe eine Behinderung"

"Das ist im Endeffekt das Gleiche, weil es diese Formulierung nur für Legastheniker gibt", kritisiert der Kläger. Er glaubt, dass Legasthenikern wegen des Zeugnis-Vermerks Nachteile bei der Jobsuche entstehen: "Das ist, als würde man einen Stempel bekommen mit der Aufschrift 'Vorsicht, ich habe eine Behinderung. Willst du mich wirklich einstellen?'"

Wer Legasthenie hat, tut sich je nach Schweregrad sehr schwer damit, einen Text zu lesen und zu verstehen. Das Lesen dauert lange. Betroffene stocken, vertauschen Wörter, fügen welche hinzu, oder erraten sie. Beim Schreiben werden Buchstaben verwechselt. Die Handschrift ist oft unleserlich, Grammatik und Zeichensetzung falsch. Die Intelligenz der Betroffenen ist jedoch nicht gemindert. Im letzten Schuljahr wurden allein in den weiterführenden Schulen in Bayern mehr als 30.000 Schülerinnen und Schüler mit einer solchen Lese- und/oder Rechtschreibstörung erfasst.

Diskriminiert der Staat Legastheniker?

Damit Legastheniker in der Schule keine Nachteile haben wegen ihrer Behinderung – und als solche wird Legasthenie gewertet – können Eltern Notenschutz beantragen. Die Rechtschreibung fließt dann nicht in die Benotung ein. Zudem können Kinder bei Prüfungen mehr Zeit bekommen. Dieses Entgegenkommen solle jedoch nicht in Zeugnissen dokumentiert werden, so der Kläger und sein Anwalt. Ansonsten würde der Nachteilsausgleich ja wieder konterkariert.

Der Staat würde mit dem Zeugnis-Passus sogar die Voraussetzungen schaffen, dass Menschen mit Behinderung im Vornherein aussortiert werden können: "Wer stellt jemanden ein, in dessen Zeugnis steht: 'Auf die mündliche Präsentation, auf die Bewertung von Rechtschreibung, Grammatik und Zeichensetzung und auf Prüfung zum Hörverstehen wurde verzichtet.' Jeder, der das liest, kann nur denken, dass der Bewerber zu dumm und grottenschlecht für alles ist", so der Kläger, dessen Anliegen auch Legasthenie-Verbände befürworten.

Bundesverwaltungsgericht weist Klage ab

Doch haben Arbeitgeber nicht auch ein berechtigtes Interesse, von einer Lese- und Rechtschreibstörung zu erfahren? Der Kläger lässt dieses Argument nicht gelten. "Aus meiner Erfahrung können Menschen mit Behinderung viel besser abschätzen, was sie können. Aber wenn man das einfach so offenlegt, dann kann der Arbeitgeber aus Stereotypen davon ausgehen, dass jemand etwas nicht kann, obwohl er es eigentlich kann." Bayerns Kultusministerium wollte sich vor dem Urteil nicht zu dem Zeugnis-Hinweis äußern.

Seit ihrem Abitur 2010 kämpfen die drei ehemaligen Münchner Schüler nun schon gegen den Zeugnis-Hinweis. Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig konnte darin keine Benachteiligung von Behinderten erkennen. Es gehe lediglich darum, das Zeugnis transparenter zu machen. Ob er selbst schon einmal wegen seines Zeugnis-Vermerks Nachteile hatte, kann der Kläger nicht einschätzen. "Man erfährt ja nicht, wenn man aufgrund des Zeugnis-Hinweises aussortiert wird." Heute arbeitet er als Ingenieur.

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