Symbolbild: Ein jugendlicher Insasse einer Justizvollzugsanstalt sitzt auf einer Fensterbank und schaut aus dem Fenster
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Symbolbild: Ein jugendlicher Insasse einer Justizvollzugsanstalt sitzt auf einer Fensterbank und schaut aus dem Fenster

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Kriminalität - Wenn Eltern an ihren Kindern verzweifeln

Das eigene Kind: ein Straftäter. Für die Eltern oft ein Schock. Im BR-Politikmagazin Kontrovers erzählen sie von der quälenden Frage, was sie falsch gemacht haben, von den Sorgen um ihr Kind und wie die ganze Familie unter der Situation leidet.

Über dieses Thema berichtet: Kontrovers am .

Eines Tages klingelt am Nachmittag das Telefon. Andrea (Name von der Redaktion geändert) geht ran. Die Polizei ist in der Leitung. Ihr Sohn sei verhaftet worden. "Also das war wie ein Schlag in die Magengegend. Aus heiterem Himmel. Du nimmst das Telefon ab und denkst dir nichts. Und dann sagt er: Hier ist die Polizei. Ihr Sohn sitzt in U-Haft." Die Familie von Andrea und ihrem Mann Peter (Name von der Redaktion geändert): ganz normale Mittelschicht. Sie stehen mit beiden Beinen im Leben. Dass ihr Sohn Kontakt zum kriminellen Milieu hat, davon ahnt das Ehepaar bis zu jenem Anruf nichts.

Video: Kontrovers - Die Story: Verzweifelte Eltern - Mein kriminelles Kind

Gefängnisaufenthalt des Kindes: tabuisiert, verheimlicht, stigmatisiert

Auch wenn es sie große Überwindung kostet, ist das Ehepaar bereit, im BR-Politikmagazin Kontrovers darüber zu sprechen, was ihnen mit ihrem eigenen Kind widerfahren ist und wie sie versuchen damit fertig zu werden, dass ihr Sohn hinter Gittern sitzt. Die Bedingung: Sie möchten anonym bleiben.

"Haft ist nach wie vor ein sehr tabuisiertes Thema, über das keiner offen spricht. Die Inhaftierung von Angehörigen wird selbst vor ganz nahen Freunden, Verwandten, teilweise vor der eigenen Mutter verheimlicht.", weiß Sozialarbeiterin Beate Wölfel von der Beratungsstelle Treffpunkt e.V. in Nürnberg. Dort treffen sich einmal im Monat Eltern von inhaftierten Kindern zum Gesprächskreis: "Teilweise werden Ausreden erfunden, wo sich das Kind gerade befindet aus Scham und aus Angst davor, dass man stigmatisiert wird als Mutter oder Vater von einem Knacki."

Auch Andrea und Peter haben einigen ihrer engsten Familienmitglieder nichts von den Straftaten ihres Sohnes erzählt. Schon seit einigen Jahren nehmen sie regelmäßig an der Elterngruppe teil, der Kontakt zu anderen betroffenen Eltern hilft ihnen.

Kriminelle Karriere: erst Drogenkonsum, dann Dealen

Im Teenageralter beginnen die Probleme mit dem Sohn von Andrea und Peter. "Das war wohl dann mit 14 ungefähr. Dann ging es los in der Punker-Szene. Auf einmal dann Springerstiefel. Und da ging es dann wohl mit Alkohol und Drogen los", erinnert sich der Vater.

Die Eltern beobachten zwar, wie sich ihr Sohn in der Folgezeit zurückzieht, doch dass er drogenabhängig wird und zu dealen beginnt, haben sie nicht mitbekommen. Mutter Andrea erinnert sich: "Ich habe das lang als pubertären Abschnitt abgetan. Ich habe gedacht: Der wird schon wieder. Aber, dass es mit Drogen zusammenhängt, war mir lange nicht bewusst.“

Haftstrafe des Sohnes belastet die ganze Familie

Seitdem der Sohn im Gefängnis ist, hat sich für die Familie viel verändert: Andrea berichtet von Schweißausbrüchen und Atemnot, sobald es an der Tür läutet oder das Telefon klingelt. Sie fühlt sich allein gelassen. Der erste Besuch im Gefängnis ist erst nach Monaten möglich und für die Eltern eine furchtbare Erfahrung. Sie werden durchsucht wie an einem Flughafen. Ihr Kind dürfen sie nur durch eine Scheibe sehen und sprechen.

Der Sohn wirkt auf sie, als hätte er sich mit den Umständen abgefunden. Die Situation begleitet die Mutter Tag und Nacht: "Du gehst mit dem Gedanken ins Bett: Dein Sohn ist im Knast. Und du wachst mit den Gedanken auf: Was macht er denn wohl heute? Wie geht es ihm wohl heute? Und du musst aber dein Tagespensum schaffen."

Andrea bekommt von ihrem Arzt Tabletten verschrieben, weil sie sonst ihren Alltag nicht mehr bewältigen kann. Die Situation ist psychisch zu belastend. Sie und ihr Mann Peter ziehen sich von ihrem Freundeskreis zurück: "Man kann es irgendwann nicht mehr hören, wie toll die Kinder der anderen sind. Und du hast nur Probleme. Diese Bekanntschaften und Freundschaften, die sind dann auch irgendwann immer weniger geworden."

Eltern stehen vor Schuldenberg wegen Anwalts- und Gerichtskosten

Auch finanziell ist die kriminelle Karriere ihres Sohnes eine große Bürde. "Du weißt nicht, wie du den Rechtsanwalt zahlen sollst. Du weißt nicht, wie die Gerichtsverhandlungen ausgehen. Du weißt nicht, wie viele Jahre er ins Gefängnis muss." Andrea schildert gegenüber den Kontrovers-Reportern, dass sie und ihr Mann mehr als 100.000 Euro bis heute für Anwälte, Gerichtskosten, Miete und unbezahlte Rechnungen ihres Sohnes bezahlt haben.

Aktuell ist ihr Sohn aufgrund seiner Straftaten im Zusammenhang mit der Sucht im Maßregelvollzug. Andrea ist es wichtig, dass der Sohn sein Leben in Ordnung bringen kann, wenn er seine Haftstrafe verbüßt hat, und nicht vor einem Berg Schulden steht.

Die Frage der Schuld belastet die Eltern

Um mit der Situation besser fertig zu werden, besuchen Andrea und Peter regelmäßig die Elterngruppe der Nürnberger Beratungsstelle Treffpunkt e.V.. Dort können sie sich austauschen und manchmal auch ein wenig Trost suchen in ihrer Verzweiflung. Auch die Frage nach der Schuld treibt dort die Eltern um.

Andrea macht sich große Vorwürfe: "Eigentlich gebe ich mir da zum Großteil die Schuld. Ich habe es irgendwo verpasst. Ich habe irgendwo den Zeitpunkt nicht erkannt, wo ich handeln hätte müssen. Und das verzeihe ich mir nicht, bis ich sterbe. Weil, das hätte ich merken müssen, dass da etwas gewaltig schiefläuft und nicht in Ordnung ist. Aber ja, hinterher ist man immer schlauer."

Wenn Kinder kriminell werden, beginnt ein Alptraum - auch für die Familien. Für Eltern und Geschwister, die leiden, bangen und hoffen. Nicht selten zerbrechen Ehen an der Situation. Viele Eltern stehen plötzlich vor einem Schuldenberg. Neben der Sorge um das eigene Kind, versuchen viele Eltern die Situation geheim zu halten - aus Angst vor Stigmatisierung.

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