Archivbild: Ein Schild mit der Aufschrift "Maskenpflicht" auf dem Marktplatz in Aurich.
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Sind die Corona-Maßnahmen zu streng?

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Infektiologe plädiert für entspannteren Umgang mit Corona

Mit dem Oktoberfest werden die Infektionszahlen zwar deutlich steigen, sagt der Infektiologe Christoph Spinner. Dennoch plädiert er dafür, mit Corona jetzt wie mit anderen Atemwegserkrankungen umzugehen. Andere Wissenschaftler haben Bedenken.

Er freut sich aufs Oktoberfest, sagt Christoph Spinner, Infektiologe und Pandemiebeauftragter der TU München: "Ich werde da natürlich hingehen." Eine Restunsicherheit bleibe zwar, fügt er hinzu. Und: "Sehr wahrscheinlich wird es zu einem mindestens zwei bis dreifachen Anstieg der Infektionszahlen im Raum München kommen. Sprich: Wer hingeht, kann Gutes tun, indem er seinen eigenen Impfschutz noch einmal überprüft."

Vielleicht lohne sich auch eine frühe Influenza-Impfung, so der Experte - "denn auch bezüglich der Influenza wissen wir nicht so genau, was passieren wird, wenn viele Menschen aus unterschiedlichen Orten zueinanderkommen".

Infektiologe: Corona nun wie andere Atemwegserkrankungen betrachten

Trotzdem: Den "Wiesn-Katarrh" habe es immer gegeben - viele Menschen, viele Länder, viele Viren. Spinner plädiert im Kern dafür, Corona ab jetzt wie andere Atemwegserkrankungen zu betrachten, zum Beispiel wie die Influenza. "Wir haben die Impfung, wir haben die Medikamente. Omikron selbst macht auch weniger krank. All das hat Covid in gewisser Art und Weise den Schrecken genommen. Es heißt, wir werden mit dieser Erkrankung umgehen müssen wie mit anderen Atemwegserkrankungen."

Aus seiner Sicht gibt es auch keinen Grund mehr, die Diagnostik und Therapie von Covid-19 über andere Erkrankungen zu priorisieren. "Und dann müssen wir auch über die Verhältnismäßigkeit unserer Maßnahmen sprechen."

Maskenpflicht fallen lassen?

In der Konsequenz würde das heißen, dass zum Beispiel die vorgeschriebene Isolation und die Maskenpflicht in Bussen, Zügen, S- und U-Bahnen wegfallen. Zwar sei unstrittig, dass Masken die Infektionen verringern. Überall, wo viele Menschen zusammenkommen, seien sie sinnvoll - gewesen, meint Christoph Spinner. "Heute kommt der Infektionsvermeidung aus meiner Sicht keine so große Rolle mehr zu", so der Infektiologe.

Über 35 Millionen Menschen seien in Deutschland dokumentiert infiziert gewesen, die Dunkelziffer dürfte höher liegen. "Es scheint fast denkbar, dass mehr als zwei Drittel aller Deutschen inzwischen Kontakt mit dem Virus hatten", sagt Spinner. "Und deshalb muss man an dieser Stelle aus meiner Sicht auch die Verhältnismäßigkeit der Maskenpflicht noch einmal hinterfragen."

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Virologie-Professor will Corona nicht mit "Wiesn-Grippe" vergleichen

Spinner lehnt sich weit aus dem Fenster. Direkte Reaktionen darauf gibt es zunächst noch nicht. Oliver Keppler, Professor für Virologie an der Münchner LMU, sagte vor knapp vier Wochen zum BR, die Risiken und die Belastung der Gesamtbevölkerung durch Covid-19 mit der "Wiesn-Grippe" zu vergleichen, sei eine unangemessene Verharmlosung. Der Verweis auf die vergleichsweise ruhige Situation in den Kliniken im besten Falle naiv. Die Wiesn sei für ihn ein "synchronisiertes Superspreading".

Zweifel an Vergleich mit Influenza

Der Genetiker Ulrich Elling vom Institut für molekulare Biotechnologie in Wien zieht Spinners Vergleich mit der Influenza zumindest in Zweifel. Die Fallsterblichkeit, im Englischen "Case-Fatality-Rate", von Corona mit der Influenza gleichzusetzen, ist aus seiner Sicht nicht statthaft, weil bei der Influenza die Fälle viel ungenauer gezählt würden.

"Bei der Grippe ist es so, dass die allermeisten Grippe-Fälle gar nicht bekannt sind", erklärt er. "Also die meisten Leute, die Influenza haben, die werden nie auf Influenza untersucht. Deswegen ist die Case-Fatality-Rate in Wirklichkeit viel niedriger. Andersherum ist die gemessene zu hoch, weil wir nur bei denen messen, die schwere Verläufe haben. Sprich: Bei Covid ist die Case-Fatility-Rate in Wirklichkeit noch immer wesentlich höher als bei Grippe. Und die Absolutzahl der Toten ist natürlich auch höher."

In Zahlen heißt das: Im extremen Grippejahr 2017 gab es geschätzt 25.000 Influenzatote, in den bisherigen zwei Coronajahren trotz Maßnahmen 150.000 Todesfälle.

BJ.1 könnte neue Infektionswelle befeuern

Elling, der für das österreichische Gesundheitsministerium Coronaviren sequenziert, rechnet, ähnlich wie der Berliner Virologe Christian Drosten, fest mit einer deutlichen Infektionswelle im Herbst. Dabei hat er auch eine neue Virusvariante im Visier: BJ.1 - eine Subvariante der etwas älteren Omikronvariante BA2. Sie stammt aus Indien und ist in Österreich schon aufgetaucht. Das Besondere: BJ.1 hat 17 Veränderungen am Spike-Protein, dürfte also für die Antikörper, die erste Abwehrlinie unseres spezifischen Immunsystems, schwer zu erkennen sein.

"BJ.1 hat sehr viele zusätzliche Mutationen und die hat es sicherlich nicht zufällig, sondern mit dem Ziel, quasi den Immunschutz zu umgehen", sagt Elling. "Und es wäre jetzt zu hoffen - aber das wissen wir nicht -, dass es vielleicht zu Lasten der Fitness des Virus geht. Also dass das Virus vielleicht von sich aus nicht ganz so gut an unseren zellulären Rezeptor binden kann." Dann würde die Welle, die BJ.1 vielleicht verursachen kann, nicht ganz so deutlich ausfallen, so die Hoffnung. "Aber das wissen wir alles noch nicht." Dafür brauche es in den nächsten Wochen Laboruntersuchungen.

Ganz neue Varianten könnten mehr Probleme bringen

BJ.1 wird voraussichtlich bald auch in Deutschland sein. Für gefährlicher als diese neue Omikronvariante hält Elling aber mögliche ganz neue, Nicht-Omikron-Varianten, auf die sich das Immunsystem wieder neu einstellen muss und die womöglich auch wieder krankmachender sind.

Es dürfte also eine Welle im Herbst auf Deutschland zukommen. Die sei gut beherrschbar und nicht schlimmer als eine Grippewelle, sagt Christoph Spinner. Die Diskussion ist eröffnet.

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