Tatort des Attentats in Hanau
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Hanau-Anschlag: Wenn der Täter im selben Verein trainiert hat

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Hanau-Anschlag: Wenn der Täter im selben Verein trainiert hat

Der Attentäter von Hanau hat lange in der Münchner HSG-Schützengesellschaft trainiert. Welche Lehren zieht der Verein daraus? In der Kontrovers-Story spricht der Schützenmeister über die schwierige Aufgabe, die Motivation neuer Mitglieder zu prüfen.

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Helmut Fischer, Erster Schützenmeister der Königlich-Privilegierten Hauptschützengesellschaft in München (HSG), trägt zwei Dinge immer bei sich: Die gedruckte Vereinssatzung und das Grundgesetz. Letzteres ist für ihn eine wichtige Leitlinie – und für seine Schützengesellschaft. Denn Extremismus, so Fischer, fange da an, wo das Grundgesetz aufhört.

Trotzdem trainierte jemand jahrelang in seinem Verein, der angesichts seiner rassistischen Ideologie diese Grenzen definitiv verlassen hatte: Tobias R., der im Februar 2020 in Hanau zehn Menschen und anschließend sich selbst erschoss. In der Kontrovers-Story spricht der Schützenmeister darüber.

Der Täter von Hanau war legaler Waffenbesitzer – Mitgliedschaft und regelmäßiges Training in einem Verein sind mögliche Voraussetzungen, um Waffen zu bekommen und zu behalten. Man muss – ähnlich wie bei Jägern und Jägerinnen – sein Bedürfnis, eine Waffe zu besitzen, nachweisen. Helmut Fischer erinnert sich eher verschwommen an den Hanau-Attentäter. Er habe am Vereinsleben nicht teilgenommen: "Er ist gekommen und hat geschossen, dann hat er hier ein Bier getrunken und ist wieder gegangen."

Schützengesellschaft habe nichts Verdächtiges bemerkt

Tobias R. hatte schon eine Waffenbesitzkarte, bevor er nach München kam. Das sei positiv für ihn gewertet worden, sagt Fischer, denn die Schützengesellschaft schaue bei potenziellen Interessenten immer kritisch: "Geht es jemand um den Schießsport oder nur um die Genehmigung für eine Waffe?"

Der Aufnahmeprozess in der Königlich-Privilegierten Hauptschützengesellschaft ist ein mehrstufiger Prozess. Je zwei langjährige Mitglieder überprüfen die Motivation möglicher Vereinsinteressenten, machen sie mit dem Umfeld der Schützengesellschaft vertraut und bürgen letztendlich auf einer Versammlung für die Neuen. Das war auch bei Tobias R. so. Dessen Bürgen nimmt Fischer sofort in Schutz – die seien "urdemokratisch": vielleicht konservativ eingestellt, aber nicht ansatzweise rechts. Man habe bei dem späteren Täter nichts Verdächtiges bemerkt.

Hanau-Attentäter wurde in München nicht kontrolliert

Wie der spätere Täter seine Waffen in München aufbewahrte, kontrollierten die Behörden nicht. Die Waffenbehörde des Main-Kinzig-Kreises wusste zwar, dass er in München lebte, teilte das aber den Behörden in Bayern nicht mit.

Unabhängig von diesem Fall gibt eine aktuelle Recherche des BR-Politikmagazins Kontrovers Einblicke in die Arbeit der bayerischen Waffenbehörden: Waffenbesitzer werden in Bayern nur selten kontrolliert. Nach einer eigenen Erhebung im Schnitt nur alle 23 Jahre. Von 2019 zum Pandemiejahr 2020 sind diese sogenannten Aufbewahrungskontrollen nochmal deutlich gesunken: Um mehr als die Hälfte.

Gespräche über Politik sind unerwünscht

Können Schützenvereine eine soziale Kontrollinstanz sein? Seinen Blick auf potenzielle Neu-Mitglieder hat der erste Schützenmeister der HSG nach den Morden in Hanau nicht geändert, sagt er. Man könne so eine Entwicklung nicht voraussehen. Im Verein, dem Pflege von Tradition sehr wichtig ist, sind laut Fischer Gespräche über Politik eher unerwünscht, man wolle seine Mitglieder nicht erziehen.

Für politische Überzeugungen im Verein zu werben, werde sogar sanktioniert. Er sieht auch insofern keine Verantwortung beim Verein, da ein Täter, der einen rechtsextremen Anschlag plant, durchaus wissen dürfte, dass seine Positionen der Münchner Schützengesellschaft nicht anschlussfähig seien.

Berater: Neutralität nicht mit fehlender Haltung verwechseln

Jan Nowak von der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus in Bayern berät auch Vereine, wenn sie mit rechtsextremen Positionen konfrontiert werden oder etwas vorgefallen ist. Er glaubt nicht, dass Vereine – egal welcher Sportart – ein politikfreier Raum sein können. Man dürfe parteipolitische Neutralität nicht mit fehlender Haltung verwechseln.

Es sei laut Nowak wichtig, gut hinzuhören und bei beispielsweise rassistischen Äußerungen einzuschreiten: Unentschlossene Dritte im Raum würden so merken, dass bestimmte Äußerungen Widerspruch erfahren und eben "nicht normal sind". Das passe eigentlich auch gut zu der Tatsache, dass Schützenmeister Helmut Fischer stets sein Grundgesetz dabeihat: Denn Rassismus, Antisemitismus oder andere Teile rechtsextremer Ideologie stehen im "eklatanten Widerspruch zu Menschenrechten und Grundgesetz", so Nowak.

Helmut Fischer stört der Generalverdacht, dem sich Schützen und Schützinnen nach Anschlägen oft ausgesetzt sähen. Dennoch räumt er ein, dass Schützenvereine im Gegensatz zu anderen Sportarten eine besondere Verantwortung hätten – man trainiere nicht mit Fußbällen, sondern eben mit Waffen, die in den falschen Händen auch Menschen töten können.

Studie nennt Vereine als Orte zur Deradikalisierung

Eine noch nicht veröffentlichte Studie der Hochschule Düsseldorf, die dem BR vorliegt, kommt zu dem Ergebnis, dass Schützenvereine möglicherweise auch ein guter Ort der De- und Nichtradikalisierung sein können. Gemeinschaft, Austausch und demokratische Strukturen hätten das Potenzial, dazu beizutragen. Die qualitative, ethnographische Studie beschreibt das Schützenverein-Milieu als konservativ, traditionsbewusst und überdurchschnittlich patriotisch. Ein zentrales Ergebnis ist die besondere Heimatverbundenheit der Befragten.

Ein geschlossenes, rechtsextremes Weltbild habe keiner der Befragten aufgewiesen, manche haben aber durchaus rassistische und muslimfeindliche Ansichten vertreten. Die Studie benennt in diesem Kontext aber auch, dass entsprechende Einstellungen, insbesondere Islamfeindlichkeit, immer stärker in der sogenannten gesellschaftlichen Mitte verankert seien – wo auch die Schützenvereine verortet werden.

Die Untersuchung beruht auf knapp zwei Dutzend ausgewerteten Interviews und zahlreichen Besuchen bei Schützenvereinen und ist Teil eines von der EU unterstützten Projekts mit Namen DARE (Dialogue about Radicalisation and Equality).

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