Drag Queen in München (Symbolbild)
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Eine Kinderbuchlesung durch eine Drag Queen in einer Münchner Stadtteilbibliothek sorgt bei einigen derzeit für Aufregung.

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Getöse unterm Regenbogen: Darum geht es bei der Drag-Lesung

Eine Drag-Lesung für Kinder in einer Münchner Bücherei hat eine Debatte ausgelöst, die schriller ist als die Outfits der Lesenden. Einige Politiker sprechen gar von "Kindswohlgefährdung". Doch was wird überhaupt gelesen und wer liest vor?

Über dieses Thema berichtet: Regionalnachrichten aus Oberbayern am .

Selten hat eine Lesung für Kinder in einer Stadtteilbibliothek so viel Aufregung verursacht wie diese - und das schon über einen Monat, bevor der erste Buchstabe gelesen wurde. Der Grund: Die Vortragenden sind eine Drag Queen, ein Drag King und ein 13-jähriges Trans-Mädchen.

"Kindswohlgefährdung" und "Hetze gegen die Community"

Freie-Wähler-Chef Hubert Aiwanger - in der Winnetou-Debatte noch ein Verfechter der Freiheit von Literatur - ist alarmiert. Er sieht in in der Lesung "Kindswohlgefährdung" und fordert ein Einschreiten des Jugendamts, wie am Wochenende in der "Bild"-Zeitung zu lesen war. CSU-Generalsekretär Martin Huber schrieb mit Blick auf die Münchner Lesungsankündigung schon am 3. Mai auf Twitter: "Vierjährige sollten mit Bauklötzen oder Knete spielen und nicht mit woker Frühsexualisierung indoktriniert werden".

Die Vereine LesCommunity und Münchner Aidshilfe schießen zurück: "Die Gefährdung von jungen Menschen geht nicht von einer harmlosen Drag-Lesung aus, sondern von der Hetze und den Abwertungen, die von den Gegnern der Community verbreitet werden". Beunruhigt blicken viele Gays und Transsexuelle in Orbans Ungarn - oder in die USA, wo die Republikaner ähnliche Veranstaltungen neuerdings mit Gefängnisstrafen verhindern wollen.

Ähnliches steht in der Landeshauptstadt indes nicht zu befürchten. Für Unmut bei den Münchner Christsozialen hatte zuletzt gesorgt, dass die Stadtratsfraktion nicht eingeladen wurde, bei der Parade am Christopher Street Day mit einem eigenen Wagen teilzunehmen. Vor allem aber zeigt sich bei näherer Vorab-Betrachtung der Lesung, dass der Auslöser des medialen Kulturkampfs vielleicht Geschmackssache ist, aber eher kein Grund für öffentliche Erregung; erst recht nicht für einen "Library War" nach amerikanischem Muster.

Worum geht es?

"Wir lesen euch die Welt, wie es euch gefällt", so ist die "Draglesung" für Kinder ab vier Jahren überschrieben, die am Nachmittag des 13. Juni in der Stadtteilbibliothek München-Haidhausen stattfinden soll. Im Ankündigungstext heißt es:

"Drag Queen Vicky Voyage mit Drag King Eric BigClit und die trans* Jungautorin Julana Gleisenberg nehmen euch mit in farbenfrohe Welten, die unabhängig vom Geschlecht zeigen, was das Leben für euch bereithält und dass wir alles tun können, wenn wir an unseren Träumen festhalten!"

Das "breit aufgestellte" Programm der Münchner Bibliotheken richte sich "an eine vielfältige Stadtgesellschaft", verteidigen sich die Organisatoren gegen die harsche Kritik im Vorfeld. "Daher haben wir auch Lesungen zum Thema Diversität im Programm."

Wer liest vor?

Dragqueens wie Vicky Voyage - so das LSBTIQ-Lexikon der Bundeszentrale für politische Bildung - sind meist Personen, denen bei Geburt das männliche Geschlecht zugewiesen wurde, und die "etwa im Rahmen von künstlerischen Performances Weiblichkeit(-en) darstellen bzw. parodieren". Anders als Travestie-Künstler, die in verschiedene Rollen schlüpfen, haben Dragqueens eine weibliche Identität mit eigenem "Drag-Namen". Für Drag King Eric BigClit gilt spiegelbildlich das Gleiche.

Vicky Voyage kann die Aufregung um ihren Auftritt nicht verstehen. Sie wolle Kinder für Bücher begeistern und ihnen verschiedene Lebensweisen und Blickwinkel nahebringen. Dabei werde das Programm natürlich individuell an das jeweilige Publikum - hier: Kinder ab vier - angepasst. Eric BigClit ärgert vor allem die Vorstellung, die Vorlesenden wollten die Kinder irgendwie manipulieren - "weil ich das eigentlich sogar umgekehrt kenne, dass man mir irgendwas anerziehen wollte, was ich in meinem Herz, in meiner Seele nicht bin. Es liegt mir mehr als fern, so etwas mit anderen Menschen zu machen," so der Drag King gegenüber dem BR.

Dragqueen Vicky Voyage
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Dragqueen Vicky Voyage

Die dritte Vorlesende ist die 13-jährige Julana Gleisenberg aus dem Allgäu, die als Junge geboren wurde, im Kindergarten aber schon immer lieber mit Puppen gespielt hat. "Julana hat damals nie ganz der Norm entsprochen. Später war dann auch klar, warum", erzählt ihr Vater in einem Porträt der Münchner Abendzeitung. Seit zwei Jahren ist Julana auch offiziell ein Mädchen.

Was wird gelesen?

Auf dem Programm stehen drei Bücher. "Julana - endlich ich! Mein Weg vom Jungen zum Mädchen", heißt das schmale Buch, in dem Trans-Kind Julana Gleisenberg beschreibt, wie sie zu sich selbst gekommen ist und welche Hürden für sie zu überwinden waren - Spoiler: es brauchte viel Mut, verständnisvolle Eltern, zwei Fachgutachten und ein Gerichtsurteil.

Das zweite Buch, aus dem gelesen wird: "Der Junge im Rock" von Kerstin Brichzin (hier eine Besprechung des Deutschlandfunk) erzählt die Geschichte des Jungen Felix, der am liebsten Röcke trägt und sich wundert, warum das nur Mädchen dürfen (die dafür ihrerseits vor gar nicht langer Zeit keine Hosen tragen durften). Die Frage, warum Felix Röcke mag, lässt die Autorin bewusst offen.

Im dritten Buch - "Ein Tag im Leben des Marlon Bundo" - spielt ein sehr spezielles Kaninchen die Hauptrolle, nämlich das Hauskaninchen des ehemaligen US-Vizepräsidenten Mike Pence. Der US-Bestseller von Autorin Gill Twiss ist eine Parodie auf den Social-Media-Rummel, den Familie Pence mit ihrem Hauskaninchen veranstaltete. Die Provokation für den erzkonservativen Republikaner Pence, der die gleichgeschlechtliche Ehe strikt ablehnt: Bei Gill Twiss entwickelt Marlon im Garten des Amtssitzes Gefühle für ein anderes männliches Kaninchen.

Sexualität spielt den in drei Büchern in Wort und Bild übrigens keine Rolle - es geht um Identität, wie Vicky Voyage betont. Die Stadtteilbibliothek teilt mit: "In diesem Fall handelt es sich um ein Angebot für Familien mit Kindern ab vier Jahren. Es werden altersgerechte Bilderbücher vorgelesen."

Wie ein Jugendschützer urteilt

Der Sexualpädagoge Michael Kröger von der Landesarbeitsstelle Aktion Jugendschutz hält das Angebot für sinnvoll. Viele Bildungsangebote und Medien zeigten nur traditionelle Geschlechterrollen und Familienmodelle. Drag sei eine Kunstform, die mit Geschlechterrollen spiele und oft das Gegengeschlecht der agierenden Person in überzeichneter Weise darstelle. "Kinder nehmen die bunten Kostümierungen eher als lustig und interessant wahr – vielleicht sind sie auch zunächst irritiert, weil der Anblick sehr ungewohnt ist. Wahrscheinlich haben viele Kinder auch viele Fragen dazu", sagt er.

Verständnis hat Kröger dafür, dass sich die CSU-Fraktion am Namen "BigClit" stört, der sich im Deutschen mit "Große Klitoris" wiedergeben ließe. Für die Außendarstellung sei der Künstlername problematisch, er provoziere und könne falsche Assoziationen hervorrufen. "Festzustellen ist aber auch, dass Kinder eine englischsprachige Abkürzung dieser Art in der Regel nicht verstehen, und selbst wenn, auch die Benennung eines Körperteils an sich keine Kindeswohlgefährdung darstellt", findet Kröger.

Die Vielfalt der Anderen

Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD), der die Lesung anfänglich skeptisch kommentiert hatte, hat seine Kritik inzwischen relativiert und ein Verbot ausgeschlossen. "Völlig absurd ist, dass mein Statement von rechten Kreisen als Legitimation für queer-feindliches Auftreten genutzt wird." Auch die Münchner CSU-Fraktion fordert, Meinungsvielfalt zu akzeptieren - was in diesem Fall allerdings an die Adresse der Münchner CSD-Organisatoren gerichtet ist: "Wer Vielfalt feiert, muss auch vielfältige Meinungen akzeptieren."

Festzuhalten bleibt, dass es sich bei der Lesung nicht um ein "Muss" - also etwa ein verpflichtendes Schulangebot - handelt, sondern um eine Lesung, die jeder ignorieren, mit seinem Kind besuchen, gut oder schlecht finden und bei Nichtgefallen wieder verlassen kann. Olivia Jones - Deutschlands prominenteste Drag Queen, die selbst oft vor Kindern auftritt - rät jedenfalls zum Lesen-und-Lesen-lassen: "Etwas mehr Unaufgeregtheit und weniger Populismus würde der Diskussion sicher gut tun".

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