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Juden Gedenken Gunzenhausen

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"Blutiger Palmsonntag": Erinnerung an Hetzjagd auf Juden

Vor 90 Jahren haben in der fränkischen Kleinstadt Gunzenhausen bis zu 1.500 Menschen eine Hetzjagd gegen jüdische Familien abgehalten. Bei den Ausschreitungen kamen zwei Männer ums Leben. Jetzt ergreifen die Nachkommen der Opfer das Wort.

Über dieses Thema berichtet: Frankenschau aktuell am .

Am Vormittag hätten die Menschen in Gunzenhausen noch fröhlich Konfirmation gefeiert, sagt Bürgermeister Karl-Heinz Fitz, "am Abend kam es zum Zivilisationsbruch". Der Sonntag vor Ostern im Jahr 1934 ist als „Blutiger Palmsonntag“ in die Geschichte der Stadt eingegangen.

Bis zu 1.500 Menschen beteiligten sich damals an einer Hetzjagd gegen die eigenen Nachbarn. Sie zogen zu den Häusern der jüdischen Familien in der Stadt, schrien Drohungen und Beleidigungen. Angeführt von SA-Männern traten sie Türen ein, zerrten Menschen auf die Straße, sperrten 30 Männer und sechs Frauen ins Gefängnis. Zwei Männer fanden an diesem Tag vor 90 Jahren den Tod.

Bei der Erinnerungsveranstaltung ist der Saal des Lutherhauses in Gunzenhausen voll besetzt. Rund 300 Menschen sind gekommen, um gemeinsam an einen der dunkelsten Tage der Stadtgeschichte zu erinnern. Die Ehrengäste sind sieben Familienmitglieder der Familie Teitelbaum, frühere Inhaber eines Hutgeschäftes in Gunzenhausen.

Gewalt und Ausschreitungen gegen Nachbarn

Rund 5.600 Menschen lebten in den 1930er Jahren in Gunzenhausen, 184 von ihnen Jüdinnen und Juden. "Für sie war der Abend ein Albtraum", sagt Bürgermeister Fitz. Bereits um 13 Uhr war der 21-jährige SA-Mann und Anstifter Kurt Bär bei Siegmund Rosenfelders Haus am Marktplatz vorbeigekommen. Er hatte ausrichten lassen, "wir essen und trinken Schnaps und hängen die Juden auf". So hat es der damals 16-jährige Max Teitelbaum zu Protokoll gegeben, ein Mieter im Hause Rosenfelder.

Am späten Abend standen 80 Leute, "Juden raus" skandierend, vor dem Haus. Zuvor hatten sie den Fensterladen heruntergerissen. Auf der Suche nach Rosenfelder drangen sie über die Hintertür ins Haus ein und traten von innen die Haustüre auf. Max Teitelbaum nahmen sie mit ins Gefängnis, im Schlafanzug. Seine Mutter Laura Teitelbaum fiel in Ohnmacht.

Enkelin zu Besuch in Gunzenhausen

Die Namen einiger junger Randalierer hatte Max Teitelbaum zu Protokoll gegeben. "Er kannte sie alle, es waren Nachbarn und Bekannte", sagt Rachel Tamari, Enkelin von Max Teitelbaum. Aus den USA ist sie extra zum Gedenktag nach Gunzenhausen gereist, mit Bruder, Vater und zwei Cousins. Rachel Tamari hat erst im vergangenen Sommer von diesem Teil ihrer Familiengeschichte erfahren. Die Geschichte der Häuser und ihrer jüdischen Bewohnerinnen und Bewohner ist auf einer Webseite "Jüdisches Leben in Gunzenhausen" zusammengetragen. "Auf einmal hat mich meine Urgroßmutter angesehen", sagt Rachel Tamari über den Moment, als sie die Seite entdeckt hat. Dort konnte sie nachlesen, was ihr geliebter Opa nie selbst erzählt hat. "Er war bis zuletzt ein stolzer Deutscher", erzählt sie.

Erstes Pogrom dieses Ausmaßes in Deutschland

Die stundenlange Hetzjagd im März 1934 war deutschlandweit der erste Übergriff auf Juden in diesem Ausmaß. "Es ist ein beklagenswertes Alleinstellungsmerkmal unserer Stadt", sagt Werner Mühlhäußer, Stadtarchivar in Gunzenhausen. Sogar die New York Times berichtete von dem Vorfall. Doch warum kam es ausgerechnet hier zu solchen Ausschreitungen?

Schon Ende der zwanziger Jahre erreichte die Nationalsozialistische Partei NSDAP in einigen fränkischen Kleinstädten 60 Prozent Zustimmung bei den Wahlen, so auch in Gunzenhausen. Regelmäßig waren prominente Figuren zu Gast in der Stadt. Julius Streicher, der spätere Gauleiter für Franken, sprach hier vor vielen hundert Zuhörern. Auch bei den evangelischen Ordensschwestern im Diakonissen-Mutterhaus Hensoltshöhe war Streicher willkommen. Die evangelische Kirche war empfänglich für nationalsozialistische Einstellungen, viele Orte in Mittelfranken sind evangelisch geprägt.

"Blutiger Palmsonntag" verursacht erste Abwanderungswelle

Über die Todesopfer des "Blutigen Palmsonntag" wurde nicht etwa getrauert, sie wurden im Gegenteil verhöhnt. Ihre Namen standen auf einem Schild am Stadtrand, solche wolle man in der Stadt nicht mehr haben. "Das hat die jüdischen Familien so in Schock versetzt, dass eine erste größere Abwanderungswelle einsetzt", sagt Stadtarchivar Mühlhäußer. Viele Familien verkauften ihre Häuser und verließen in den nächsten Monaten die Stadt.

Kaum juristische Konsequenzen

25 Anführer des Pogroms wurden wenige Monate später vor Gericht gestellt. "Diese Einzelaktion ist keinesfalls auf Zustimmung der Nazi-Machthaber gestoßen", erzählt Mühlhäußer. Obwohl es Todesopfer und Verletzte gab, wurden den Angeklagten weder Mord oder Körperverletzung noch Hausfriedensbruch vorgeworfen. Stattdessen mussten sich die Täter wegen Landfriedensbruch und Freiheitsberaubung rechtfertigen, weil sie 30 Männer ohne Grund im Gefängnis festgehalten hatten.

Gegen einige wurden mehrmonatige Haftstrafen verhängt, die allerdings nie vollstreckt wurden. "Nach der Verhandlung wurden sie fast triumphal empfangen, es gab kostenloses Essen für die verurteilten Täter", schildert Mühlhäußer. Wie sehr die antisemitische Stimmung bereits verbreitet war, lässt sich an den Worten des Richters erkennen. Im Urteil sei das Pogrom als "reinigendes Gewitter" bezeichnet worden, durch das sich "angestaute Spannungen entladen" hätten. "Für uns heute ist es unbegreiflich, wie man solche massiven Übergriffe derart verharmlosen kann", sagt Mühlhäußer.

Aufruf zu Menschlichkeit: "Verantwortungsvoll zusammenstehen"

In einem der historischen Häuser Gunzenhausens ist Max Teitelbaum aufgewachsen, es steht immer noch genauso da wie damals. Ein prächtiges Fachwerkhaus, gelb gestrichen, mit dunkelgrünen Fensterläden. Rachel Tamari stellt sich vor, wie ihr Großvater Max Teitelbaum hier auf dem Hof als Kind mit den anderen gespielt hat. Vor der Gedenkgemeinde im Luthersaal erzählt sie seine Geschichte, seinen Weg nach München, nach Israel, in die USA.

Teitelbaums Sohn, ein erfolgreicher Medizintechnik-Entwickler, sitzt mit im Saal, inzwischen ist er 80 Jahre alt. Rachel Tamari bedankt sich für den herzlichen Empfang in Gunzenhausen. Sie hat eine Mahnung im Gepäck: Es sei wichtig, sich aktiv gegen Vorurteile, Hass, Respektlosigkeit und Extremismus zu wehren. "Es reicht nicht aus, kein Täter zu sein. Wir müssen als verantwortungsvolle Bürger der Menschheit zusammenstehen", sagt sie. Ihre Anwesenheit in Gunzenhausen ist dabei ihr aktiver Beitrag.

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