Kerstin Rathgeb im Rollstuhl vor der Tür zur Wittislinger Grundschule. Sie ist für sie ohne Hilfe nicht zu öffnen.
Bildrechte: BR, Judith Zacher

Die Türe zur Wittislinger Grundschule: Für Rollstuhlfahrer nicht zu öffnen.

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An der Treppe ist Schluss: Schulen in Bayern kaum barrierefrei

Öffentliche Gebäude in Bayern sollen barrierefrei werden. Das ist politisches Ziel. Doch die Recherche zeigt: Bei Schulen ist man davon noch weit entfernt. Eine systematische Umsetzung scheint zu fehlen und komplexe Regeln machen es Kommunen schwer.

Über dieses Thema berichtet: Mittags in Schwaben am .

Die Tür zur Wittislinger Grundschule ist schwer und sie öffnet sich nach außen. Einen elektrischen Türöffner gibt es nicht. Alleine kann Kerstin Rathgeb sie nicht öffnen. Die Mutter zweier Kinder hat MS und ist seit zwei Jahren auf den Rollstuhl angewiesen. Seitdem ist die Wittislinger Grund- und Mittelschule für sie nicht mehr zugänglich. Rund 250 Schülerinnen und Schüler besuchen die Schule – einer davon ist ihr Sohn. Zu den Klassenzimmern führen Treppen, eine behindertengerechte Toilette gibt es nicht.

Rathgeb: "Ich bin die Mama - ich will teilhaben!"

Für Rathgeb bedeutet das: Die Klassenlehrerin ihres Sohnes hat sie bisher nicht persönlich kennengelernt. Konzerte ihres Sohnes habe sie ebenfalls nicht besuchen können. "Viele sagen dann: Schick doch jemand anderen, die Oma, oder den Papa. Aber das mach ich doch schon so oft. Aber ich bin die Mutter. Im September wird meine kleine Tochter eingeschult. Und da möchte ich schon gerne mit", sagt sie.

Dabei habe sie schon Hoffnung gehabt: Eigentlich sollte die Schule bis dahin rollstuhlgängig sein. "Ich hatte mich schon fast gefreut, dass es auch für mich dann etwas entspannter wird, aber die Hoffnung hat sich bald zerschlagen", sagt sie und ihr kommen die Tränen.

Pläne für barrierefreien Umbau waren bereits genehmigt

Denn die Gemeinde Wittislingen war schon auf einem guten Weg. Bereits vor Jahren hatte man festgestellt, dass es zu wenige Brandschutztüren an der Schule gibt. Bei den Diskussionen über einen Umbau sei dann auch die Barrierefreiheit thematisiert worden, erklärt Bürgermeister Thomas Reicherzer (SPD). Das sei noch vor seiner Amtszeit gewesen. Im Jahr 2021 beauftragte er dann ein Architekturbüro mit den Planungen. Die wurden sowohl vom Gemeinderat als auch vom Landratsamt genehmigt.

Regierung von Schwaben lehnte Förderung ab

"Und dann kam der Schock", sagt der Bürgermeister. Die Regierung von Schwaben lehnte den Förderantrag ab. Der Grund: Die Gemeinde hatte mit einem Aufzug für den Altbau und Plattformlifte an den einzelnen Treppen im Neubau geplant. So wäre aber unter anderem ein Raum im Keller nicht erreichbar gewesen.

Reicherzer argumentiert: "Wir haben versucht, eine praktikable Lösung zu finden, wie wir Barrierefreiheit schaffen, aber auch die Kosten minimieren können". Auf den Zuschuss aber sei die nicht gerade finanzstarke Verwaltungsgemeinde angewiesen. Jetzt müsse neu geplant werden - das koste wieder Zeit und Geld. Außerdem seien die Gesamtkosten jetzt höher. Reicherzer betont aber auch: "Wir hatten die 1B-Lösung. Das ist dann die 1A-Lösung". Noch weiß er nicht, wie hoch die Förderung am Ende sein wird. Das bereite ihm immer noch etwas Bauchschmerzen.

Barrierefreiheit von Schulen erklärtes politisches Ziel

Die Barrierefreiheit von Schulen ist erklärtes politisches Ziel der bayerischen Staatsregierung. An der Umsetzung aber hapert es. Bis 2023 sollten alle öffentlichen Gebäude in Bayern barrierefrei sein, so der ehemalige Ministerpräsident Horst Seehofer in seiner Regierungserklärung 2013. Das ist noch lange nicht erreicht.

Ministerpräsident Markus Söder betont unterdessen, wie viel Geld in die Maßnahmen gesteckt würde - eine Jahreszahl, bis wann alles umgesetzt sein soll, nennt er aber nicht mehr. Barrierefrei sind Lebensbereiche dann, wenn sie für Menschen mit Behinderung grundsätzlich ohne Hilfe und ohne besondere Erschwernis erreichbar und nutzbar sind - so definiert es die Bayerische Staatsregierung in ihrem Programm "Bayern barrierefrei".

Keine Übersicht über barrierefreie Schulen

Eine Übersicht, wie viele Schulen in Bayern bereits barrierefrei sind, hat weder das Kultusministerium, noch das jeweilige Landrats- oder Schulamt. Die Behörden verweisen auf die jeweiligen Sach- bzw. Schulaufwandsträger, das sind in der Regel die Kommunen. Um zu erfahren, welche Schulen barrierefrei sind, muss man also in jeder einzelnen Kommune anfragen.

Die Recherche zeigt: Nur fünf von 14 Grundschulen im Landkreis Dillingen verfügen über einen Aufzug oder Treppenlift und ein behindertengerechtes WC. Im Oberallgäu ist ebenfalls nur etwa ein Drittel der Grund- und Mittelschulen barrierefrei. Und sogar in der "inklusiven Bildungsregion" Weilheim-Schongau gebe es noch enormen Nachholbedarf, kritisiert der Behindertenbeauftragte der Staatsregierung, Holger Kiesel. "Die haben mir vor Ort gesagt, nur 8 von 40 Grund- und Mittelschulen sind barrierefrei. Da ist noch sehr, sehr viel Luft nach oben."

Bauordnung schreibt Barrierefreiheit nicht vollumfänglich vor

Vorgeschrieben ist Barrierefreiheit nur, wenn eine Schule neu gebaut wird. Allerdings auch dann nicht uneingeschränkt, wie Kiesel kritisiert: "Mit Blick auf Neubauten wäre es dringend geboten, dass sämtliche neu gebaute Schulen uneingeschränkt barrierefrei gebaut werden würden." Derzeit wird das nur für den öffentlich zugänglichen Teil verlangt – also zum Beispiel nicht für einzelne Klassenzimmer.

Bei alten Schulgebäuden soll die Barrierefreiheit nur dann hergestellt werden, wenn sowieso umgebaut wird - etwa wegen des Brandschutzes, wie in Wittislingen. Dann aber laut Bayerischer Bauordnung auch nur in "erforderlichem Umfang", und wenn die Maßnahmen verhältnismäßig seien. Diese Relativierung sei ein Abweichen von den orientierenden Vorgaben der Musterbauordnung und letztlich ein bayerischer Sonderweg, so Kiesel weiter. In anderen Bundesländern seien die Vorschriften strenger und klarer geregelt.

Unklare Regeln erschweren Kommunen den Schritt

Die unklaren Regeln haben wohl auch zu den Verzögerungen in Wittslingen geführt. Man müsse sich hier alles selbst zusammensuchen, so Bürgermeister Reicherzer. Er vermutet, dass damit auch einige andere Kommunen zu kämpfen haben. Was den Kommunen helfen würde, wären höhere staatliche Förderungen und finanzielle Planungssicherheit. Dann würden wahrscheinlich mehr Kommunen diesen Weg gehen, ist der Bürgermeister sicher. Dabei ist die bauliche Barrierefreiheit nur eine Komponente: Inklusive Unterrichtskonzepte, leichte Sprache oder bessere Lichtverhältnisse für Sehbehinderte sind das nur einige Beispiele, die zu einer vollumfänglichen Barrierefreiheit gehören.

Barrierefreiheit auch für Eltern, Lehrer, Senioren wichtig

Der Wittislinger Bürgermeister hat sich mit seinem Gemeinderat trotz der schwierigen Umsetzung für den Umbau zur Barrierefreiheit entschieden. "Man muss es machen. Das ist eine Frage der gleichberechtigten Teilhabe. Man kann nicht warten, bis ein Kind im Rollstuhl da ist, dann ist es nämlich zu spät. Und es gibt ja auch Lehrkräfte, Eltern oder auch Kinder ohne Rollstuhl, die in ihrer Mobilität eingeschränkt sind. Am Ende hilft es allen." So argumentiere er, wenn kritische Nachfragen, etwa wegen der Kosten, kämen.

2,2 Millionen Euro veranschlagt die Gemeinde bisher für den gesamten Umbau - inklusive Brandschutz. Es sei die teuerste Maßnahme der Gemeinde seit Langem, aber eben auch eine sehr wichtige, so der Bürgermeister.

Erfahrung einer Erzieherin: "Inklusion wird im Keim erstickt"

Ohne Barrierefreiheit werde Inklusion schon im Keim erstickt, davon ist Kerstin Rathgeb überzeugt. Aus ihrer Zeit als Erzieherin und aus ihrem Bekanntenkreis kennt sie Eltern mit Kindern im Rollstuhl, die weite Wege auf sich nehmen, um ihr Kind zu einer barrierefreien Schule zu bringen. Andere schickten ihre Kinder gleich auf Förderschulen - auch wenn sie geistig in der Lage wären, auf eine Regelschule zu gehen. Es werde von vornherein aussortiert, so die Erzieherin.

Einfache und pragmatische Lösungen sind möglich

Ähnliche Erfahrungen hat eine Mutter aus der Nähe von Kempten gemacht. Der Kindergarten in ihrem Dorf sei nicht für ein Kind im Rollstuhl eingerichtet gewesen, berichtet sie. Deshalb musste ihre damals drei Jahre alte, körperlich behinderte Tochter täglich 15 Kilometer weit in einen integrativen Kindergarten nach Kempten gebracht werden. Ihre Freunde gingen alle in den Dorfkindergarten.

Auch die Schule vor Ort sei nicht behindertengerecht gewesen, erzählt die Mutter. Eigentlich hätte das Mädchen deshalb in die Schule für Körperbehinderte in Kempten gehen sollen. Doch die Rektorin und die Gemeinde fanden nach einigen Monaten eine Lösung: Mit Hilfe einer Schulbegleitung konnte das Mädchen auf die gleiche Schule gehen wie ihre Freunde. An der Schule sei eine Rampe eingebaut worden, die Gemeinde habe eine behindertengerechte Toilette finanziert. Dafür sei sie sehr dankbar, berichtet die Mutter glücklich.

Rathgeb hat jetzt einen anderen Weg gewählt: Ihre Tochter wird auf eine Schule im benachbarten Baden-Württemberg gehen. Komplett barrierefrei ist die zwar auch nicht, aber sie bietet digitale Elternabende an. Für Rathgeb ist das besser als keine Teilhabe. Den Umbau zur barrierefreien Schule treibt Wittislingen trotzdem voran.

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