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Gesundheitliche Gefahren durch Atomkraftwerke sind immer noch schlecht zu beziffern

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Wie gefährlich ist ein Atomkraftwerk für die Gesundheit?

Ende April 2023 sollen auch die letzten drei verbliebenen Atomkraftwerke in Deutschland abgeschaltet werden. Doch die Diskussion um mögliche Gesundheitsgefahren durch AKWs im Normalbetrieb ist immer noch nicht abgeschlossen.

Rund um den Weiterbetrieb der verbliebenen drei deutschen Atomkraftwerke stellen sich zahlreiche User Fragen zur Sicherheit von AKWs. Wir beantworten die wichtigsten von ihnen.

Gibt es häufiger Leukämie bei Kindern rund um die Standorte der AKWs?

Die kurze Antwort: Die Datenlage ist immer noch nicht eindeutig.

Die lange Antwort: Schon seit über einem Jahrzehnt wird in Deutschland ein möglicher Zusammenhang zwischen Leukämie bei Kindern untersucht, die in der Nähe von Atomkraftwerken aufwachsen. Die Studienlage zum Risiko während des Normalbetriebs eines AKW ist nach wie vor nicht eindeutig.

2007 erschien eine Studie des Bundesamts für Strahlenschutz, die KiKK-Studie (Kinderkrebs in der Umgebung von Kernkraftwerken). Sie hat gezeigt, dass Kinder unter fünf Jahren, die in einem Fünf–Kilometer-Radius rund um ein Atomkraftwerk wohnen, ein doppelt so hohes Risiko haben, an Leukämie zu erkranken. Mehr zur Diskussion um die KiKK-Studie finden Sie hier.

Doch die Studie hat auch Schwächen. Das liegt unter anderem daran, dass Leukämien grundsätzlich sehr selten sind und die reine Anzahl der Leukämien damit statistisch wenig belastbar ist. Konkret: In dem beobachteten Zeitraum erkrankten zwei Kinder an Leukämien pro Jahr. In der Vergleichsgruppe war es nur eines. Darüber hinaus wurde die konkrete Strahlenbelastung der Kinder nicht erfasst, sondern nur der Wohnort und dessen Entfernung vom AKW.

Dennoch waren Experten international alarmiert. Folgestudien aus Großbritannien, der Schweiz und Frankreich kamen danach zu teils unterschiedlichen Ergebnissen.

Im September 2022 erschien eine Studie der Universität Mainz, in der untersucht wurde, ob sich die Leukämie-Zahlen nach dem Abschalten der deutschen AKWs nach 2011 verändert haben. Im Fokus hier: die Umgebung innerhalb eines Radius von zehn Kilometern rund um ein AKW. Der Epidemiologe Emilio Gianicolo ist einer der Autoren der Studie. Im BR-Interview sagt er: "Wir sehen zwischen 2004 und 2019 eine sehr leichte Senkung der Anzahl der Neuerkrankungen nach dem Abschalten der Kraftwerke."

Doch er räumt ein: Weil die Leukämie-Zahlen an sich deutschlandweit sehr gering seien, sei die statistische Unsicherheit groß. Es gebe einfach noch zu wenige Daten.

Darüber hinaus haben er und sein Team die Daten für das AKW Krümmel, südöstlich von Hamburg, genau ausgewertet. Seit 1990 gab es hier auffällig viele Leukämie-Erkrankungen bei Kindern, die in der Umgebung gewohnt haben, bis zu dreimal so viele, wie statistisch zu erwarten gewesen wären.

Das Ergebnis seiner Studie, so Emilio Gianicolo: "Wir haben gesehen, dass das Risiko dauerhaft ist. Das heißt, dass die Fälle, die wir beobachtet haben, von 2004 bis 2019, im Schnitt doppelt so häufig sind, wie die statistisch erwarteten. Das Risiko bleibt gleichmäßig." Und das, obwohl das AKW Krümmel schon im Jahr 2011 abgeschaltet wurde. Woran es liegt, dass in der Umgebung rund um das AKW häufiger Leukämie-Fälle auftreten, kann also immer noch nicht beantwortet werden.

Angelika Claußen ist Vorsitzende der deutschen Sektion des IPPNW (Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges). Sie weist in diesem Zusammenhang auch darauf hin, dass die meisten AKWs "alt sind", im europäischen Schnitt 30 bis 40 Jahre. "Die letzten AKWs, die in Deutschland noch am Netz sind, sind im Laufe der 1980er-Jahre gebaut worden. Das ist nicht mehr der neueste Stand nach Wissenschaft und Technik." Sie sagt im BR-Interview: Auch der Normalbetrieb eines AKW ist gefährlich und verweist auf die KiKK-Studie.

Ist Atomkraft eine sicherere Energiequelle als fossile Brennstoffe?

Die kurze Antwort: AKWs verursachen pro erzeugter Energieeinheit ähnlich wenige Todesfälle durch Unfälle wie erneuerbare Energien. Im Vergleich zu fossilen Brennstoffen sind die Todesfälle verschwindend gering.

Die lange Antwort: Um sich den Gesundheitsgefahren durch AKWs anzunähern, hat die Webplattform "Our World in Data" die Todesfälle durch Unfälle und Luftverschmutzung bei verschiedenen Energieerzeugungsformen miteinander verglichen.

Fossile Energieträger und Biomasse verschmutzen zum Beispiel die Atemluft. Zu Unfällen zählen sowohl Tschernobyl oder Fukushima, aber auch Unfälle, die beim Transport von Uran oder Kohle und beim Betrieb eines Kraftwerks auftreten.

Das Ergebnis der Datenrecherche: Die meisten Menschen sterben weltweit durch die fossilen Brennstoffe Braunkohle, Kohle und Öl. Pro produzierter Terawattstunde sind das zusammengezählt fast 76 Todesfälle. Biomasse und Gas sind darüber hinaus für über 7 Todesfälle verantwortlich. Zum Vergleich: Windkraft, Atomkraft und Solarenergie verursachen gemeinsam nur 0,09 Todesfälle, und dort sind die behördlich erfassten Toten der katastrophalen Unfälle von Tschernobyl und Fukushima mit eingerechnet (umgangssprachlich auch "Super-GAU" genannt).

Wasserkraft hat laut Statistik eine Todesrate von 1,3 Toten - fast ausschließlich dominiert durch ein Ereignis, einen Dammbruch in China (Banquio) aus dem Jahr 1975. Ohne dieses Ereignis hätte auch Wasserkraft eine Todesrate ähnlich wie Wind: 0,04.

Joachim Breckow ist Professor für Medizinische Physik und Strahlenschutz an der Technischen Hochschule Mittelhessen (THM). Er war lange Vorsitzender der Deutschen Strahlenschutzkommission und hält die Kernenergie für eine sichere Technologie, wenn man sich an die Regeln hält. Die letzte Sicherheitsüberprüfung der drei noch laufenden AKWs war im Jahr 2009. Wegen des geplanten Atomausstiegs Ende 2022 war die nächste derartige Überprüfung im Jahr 2019 ausgesetzt worden.

Joachim Breckow sagt im BR-Interview: "Also wenn es tatsächlich dazu kommen sollte, dass irgendeine Sicherheitsuntersuchung nicht gemacht wird, ob sowohl sie vorgesehen ist, dann ist das schon ein Sicherheitsrisiko. Dann muss man entweder sie doch machen oder zumindest anders gewährleisten, dass die damit verbundene Einschränkung der Sicherheit irgendwie umgangen oder anders bestätigt wird."

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Bildrechte: OurWorldInData.org/energy // Markandya & Wilkinson (2007), Sovacool et al. (2016); UNSCEAR (2008; & 2018)
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Fossile Energieträger sind weltweit für die meisten Todesfälle verantwortlich

Wenn man die tödlichen Gefahren durch Unfälle und Luftverschmutzung miteinander vergleicht, schneidet die Kernenergie im Vergleich zu fossilen Brennstoffen genauso gut ab wie erneuerbare Energien. Die Autorin der Datenauswertung von Our World in Data, Hannah Ritchie, betont aber: Die Diskussion um AKW versus Ausbau der erneuerbaren Energien sei nicht zielführend. Es gehe vielmehr darum, aus den fossilen Energien auszusteigen, da diese für sehr viel mehr Tote weltweit verantwortlich sind, und um ein Vielfaches klimaschädlicher sind als Atomstrom. Es sei letztlich entscheidend, aus den fossilen Energien auszusteigen.

Wie gefährlich ist ein "Super-GAU" langfristig für die Gesundheit?

Die kurze Antwort: Auch über 30 Jahre nach dem "Super-GAU" in Tschernobyl ist die Strahlung rund um das ehemalige AKW gefährlich.

Die lange Antwort: Der Begriff "Super-GAU" ist in der Kerntechnik kein gebräuchlicher Begriff, er steht für den katastrophalen Unfall der Stufe 7 auf der INES-Skala. GAU steht abgekürzt für "Größter Anzunehmender Unfall", der noch beherrscht werden kann. Ein "Super-GAU" ist demnach ein Unfall, der nicht mehr beherrscht werden kann. Das ist bislang in der Geschichte erst zweimal passiert: in Tschernobyl und Fukushima, mit langfristigen Folgen für die Umwelt. Timothy Mousseau ist Professor für Biowissenschaften an der Universität von South Carolina und untersucht seit Jahrzehnten die Flora und Fauna rund um das ehemalige AKW Tschernobyl.

"Was vielen nicht klar ist: Die Strahlenbelastung in der Gegend ist nicht gleichmäßig verteilt. An manchen Stellen ist sie kaum messbar, an anderen sehr hoch, und das noch Tausende Jahre lang", sagt er im BR-Interview. Gerade in den stark verstrahlten Gebieten ist die dauerhafte Wirkung auf Tiere und Pflanzen enorm.

"Die Strahlung beeinflusst die Fruchtbarkeit, vor allem bei Vögeln. Aber auch die Gehirne von Säugetieren sind dort kleiner. Alle Tiere, die wir untersuchen, haben Veränderungen in ihrer DNA", sagt der Forscher. Und: In den letzten 20 Jahren ist Timothy Mousseau keine Mutation untergekommen, die durch den Super-GAU verursacht wurde, die dem betroffenen Lebewesen etwas genutzt hätte, außer bei ein paar wenigen Bakterien.

Nach einem Super-GAU bleibt die Gegend rund um das ehemalige AKW also über Jahrzehnte und Jahrhunderte gefährlich für Lebewesen, vor allem, weil kein Schwellenwert bekannt sei, ab dem radioaktive Strahlung noch ungefährlich ist. Das wiederum könnte möglicherweise auch für Menschen relevant sein, die in der Nähe von AKWs im Normalbetrieb wohnen, sagt Timothy Mousseau, und dauerhaft niedriger Strahlung ausgesetzt sind. Doch die Datenlage dazu ist schlecht, was auch die oben genannten Studien zu Leukämien bei Kindern zeigen.

Fazit: Datenlage ist immer noch zu klein

Bis heute ist die Datenlage unbefriedigend, was zum Beispiel das Risiko für Leukämien bei Kindern im Umfeld eines Atomkraftwerks angeht. Fest steht, dass radioaktive Strahlung, die nach einem großen Unfall in die Umwelt freigesetzt wird, über Jahrhunderte und Jahrtausende gefährlich ist.

Das ist die Europäische Perspektive bei BR24.

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