Leeres Klassenzimmer, auf der Tafel steht "Lockdown bis 15. Februar".
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Forscher und Lehrer sind sich einig: Durch Corona geht die soziale Schere weiter auseinander.

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Schule und Corona: Wie lassen sich die Bildungslücken schließen?

Den Schulkindern fehlt derzeit das zum Lernen so wichtige soziale Umfeld. Gerade die Jüngsten und benachteiligte Kinder leiden besonders darunter. Bildungsforscher und Lehrerverband beurteilen das Thema Bildungsgerechtigkeit unterschiedlich.

Über dieses Thema berichtet: Das Campusmagazin am .

Auch wenn es lang gedauert hat: In Bayern verfügen die meisten Schulen mittlerweile über Leih-Computer, die Lern-Plattform Mebis scheint größtenteils stabil zu funktionieren, viele Lehrerinnen und Lehrer sind besser geschult, was die Möglichkeiten des virtuellen Unterrichts angeht. Das bedeutet noch lange nicht, dass jetzt alle Kinder im Unterricht besser mitkommen. Simone Fleischmann, Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands, macht sich Sorgen:

"Kinder, die von zuhause aus weniger Unterstützung bekommen, sind in Bayern seit je her Bildungsverlierer. Durch Corona geht die soziale Schere noch weiter auseinander."

Das gilt natürlich nicht nur für Bayern. Internationale Studien zeigen, dass die Corona-Pandemie weltweit gravierende Folgen hat für die Bildung. In diesem Zusammenhang sprach die UN-Kultur- und Bildungsorganisation UNESCO im Sommer von "Lernverlusten, die über diese Generation hinaus drohen", die Pandemie würde "jahrzehntelange Fortschritte" zunichtemachen.

Nicht jedes Kind kann selbstständig lernen

Immerhin ist seitdem einiges passiert: In Bayern kann inzwischen jedes Kind Zugang zu einem Leihcomputer haben, trotzdem bleiben viele Probleme ungelöst. Denn nicht jedes Kind ist in der Lage, sich selbst zu organisieren und selbstständig zu lernen. Erst recht nicht, wenn es mit mehreren Geschwistern und den Eltern auf engem Raum lebt. Da bleibe oft kein Platz und keine Ruhe zum Lernen, so Simone Fleischmann. Hinzu kämen die psychischen Belastungen durch finanzielle Sorgen oder den Jobverlust eines Elternteils. "Dadurch entstehen neue Krisenherde in der Familie, die für Kinder schwer auszuhalten sind", erklärt Simone Fleischmann.

Manche Kinder plagen Schuldgefühle und Scham

In so einer Situation fühlten sich Kinder manchmal schuldig, dass sie jetzt auch noch zuhause sind und auch noch Hilfe von ihren Eltern brauchen, so Simone Fleischmann. Die Möglichkeit, sich einen Laptop auszuleihen, nehmen manche Eltern gar nicht erst in Anspruch:

"Es gibt Eltern, die wollen nicht, dass man sieht, wo die Kinder sitzen, viele Kinder wollen nicht an Videokonferenzen teilnehmen, weil sie sich ein bisschen schämen, für das, was in ihrem Räumen los ist. Und viele Eltern haben prinzipiell auch Angst, zuzugeben, dass sie ein Endgerät bräuchten, weil man nicht sagen will, dass man sich keins leisten kann."

Schule als Raum für soziales Lernen

Auch wenn Schule nicht immer beliebt ist, für die soziale Entwicklung der Kinder ist sie essentiell: der regelmäßige Tagesrhythmus, die Begegnung mit dem Lehrer, der einem auch mal auf die Schulter klopft und sagt: "Du schaffst das auch!", die Spielgefährten, der gemeinsame Schulweg, das gemeinsame Essen einer warmen Mahlzeit, das Fußballspielen am Nachmittag, das alles fällt weg, und das macht gerade Kindern aus schwierigen Verhältnissen zusätzlich zu schaffen.

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Wohlhalbende Familien leisten sich einen Nachhilfelehrer

Gleichzeitig werde es Kinder und Jugendliche geben, die relativ unbeschadet durch diese Corona-Zeit kommen, vielleicht sogar davon profitieren, so Kai Maaz, Direktor des Leibniz-Instituts für Bildungsforschung und Bildungsinformation (DIPF). Dazu zählen Kinder, die entweder von sich aus leistungsstark sind oder einfach viel Unterstützung von zuhause bekommen. Sei es, weil ein Elternteil die Zeit hat, mit ihnen zu lernen, oder weil für viel Geld ein Nachhilfelehrer eingestellt wurde.

Lücken schließen ist möglich – mit mehr Zeit und mehr Personal

Eine große Herausforderung werde es für die Schulen sein, mit dieser Heterogenität umzugehen. Darauf seien die Schule in Deutschland aktuell aber nicht vorbereitet, so Kai Maaz. Das sieht Simone Fleischmann vom Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverband ein wenig anders: Heterogenität sei unter normalen Umständen sogar positiv: schwache Schüler würden von starken lernen und umgekehrt. Und Lehrer und Lehrerinnen seien fachlich durchaus darauf vorbereitet. Das Problem läge woanders:

"Wir könnten selbstverständlich Lücken schließen als Lehrerinnen und Lehrer, das haben wir gelernt, das ist unser Business, wir können fördern, differenzieren, individuell Kinder begleiten, aber dazu bräuchten wir Zeit, die wir nicht haben, wenn wir aufholen sollen, also rückwärtsfahren und dann sollen wir aber bitteschön im nächsten Schuljahr oder nach dem Lockdown vorwärtsfahren. Und zwar mit Vollgas. Ich kenne keinen Zug, der gleichzeitig rückwärts und vorwärts fährt. Wir bräuchten extra Gleise, extra Züge, extra Personal."

BLLV fordert: Eine Ehrenrunde für alle

Um die drohenden Bildungslücken nach dem Lockdown, beziehungsweise im nächsten Schuljahr, auffangen zu können, plädiert der Bayerische Lehrer- und Lehrerinnen Verband dafür, den Schülern und Schülerinnen das Jahr 2020/21 zu "schenken". Das heißt nicht, dass "niemand sitzenbleibt", dass alle mitgenommen werden, egal, wie Wissenstand sei, so wie es im Sommer praktiziert wurde. Ganz im Gegenteil. Die Idee ist folgende: Diejenigen, die genug gelernt haben und fit genug sind, den Sprung in die Realschule oder ins Gymnasium zu machen, sollen das auch tun. Diejenigen, die noch nicht so weit sind, bleiben nicht sitzen, sondern bekommen einfach mehr Zeit, das Versäumte nachzuholen, erklärt Simone Fleischmann.

"Wir sagen: Gebt allen ein Jahr. Gebt allen ein Jahr on top, das zählt nicht auf die Schullaufbahn, es zählt nicht negativ aufs Konto. Der, der weiterkommt, geht weiter, aber wir machen alle miteinander eine Ehrenrunde."

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