Bildrechte: picture-alliance/dpa
Bildbeitrag

Christoph Schmidt übergibt Angela Merkel das Jahresgutachten

Bildbeitrag
> Wirtschaft >

Wie viel Einfluss haben Wirtschafts-Experten auf die Politik?

Wie viel Einfluss haben Wirtschafts-Experten auf die Politik?

Die Wirtschaftsweisen und Steuerschätzer platzen mit ihren Gutachten in die Endphase der Jamaika-Sondierungen. Im Streit um Steuersenkungen reklamiert vor allem eine Partei deren Erkenntnisse für sich. Von Wolfgang Kerler

Über dieses Thema berichtet: Hintergrund am .

Den Anfang machen die Wirtschaftsweisen, genauer: Die fünf Mitglieder des "Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung". Am Mittwoch überreichen sie ihr Jahresgutachten an die Bundeskanzlerin. Für die Kameras lächelt Angela Merkel höflich. Dabei stellen die Ökonomen ihrer Großen Koalition kein gutes Zeugnis aus. Die habe zu viel umverteilt, zu wenig für die Zukunft gemacht. Das Gremium verlangt eine "Neujustierung der Wirtschaftspolitik".

FDP sieht sich durch Wirtschaftsweise gestärkt

Angesichts des kräftigen Aufschwungs und steigender Staatseinnahmen lauten die Forderungen: Einkommensteuer senken, Solidaritätszuschlag abschaffen, Beitrag zur Arbeitslosenversicherung runter. Vor allem eine Partei sieht sich dadurch bestätigt: die FDP. Schließlich liest sich das Gutachten der Wirtschaftsweisen stellenweise fast wie ihr Wahlprogramm.

Michael Theurer, Mitglied im Präsidium der Liberalen, freut sich im Interview mit dem Bayerischen Rundfunk: Seine Partei könne ihre Forderungen nun mit dem "kompletten ökonomische Sachverstand in der Bundesrepublik Deutschland" begründen. Für die schnelle Abschaffung des Soli kämpft die FDP in den Sondierungen besonders hartnäckig. 

Der Trumpf für die Liberalen?

Haben die Liberalen mit dem Gutachten der Wirtschaftsweisen also den Trumpf in der Hand? Kaum.

Die Bundeskanzlerin ignorierte schon mit der Großen Koalition konsequent die Warnungen des Sachverständigenrats vor, und . Auf die neuen Forderungen des Gremiums erwidert die CDU-Chefin lapidar: "Politisch ist das nicht ganz so einfach, wie das wissenschaftlich einleuchtend ist." Ein Sinneswandel klingt anders.

Auch die Grünen bleiben dabei: Die Abschaffung des Soli würde nur Gutverdienern nutzen. Es sei schön, dass die wirtschaftliche Lage in Deutschland so gut sei, kommentiert Fraktionschef Hofreiter das Gutachten der Wirtschaftsweisen. "Aber die durchschnittliche wirtschaftliche Lage sagt leider wenig darüber aus, wie es einzelnen Menschen geht."

Die Entzauberung der Wirtschaftsweisen

Dass Union und Grüne die Wirtschaftsweisen ignorieren, liegt auch daran, dass deren Ruf in den vergangenen Jahren gelitten hat. Bis zum Beginn des Jahrtausends berücksichtigten Regierungen oft ihren Ratschlag. Sie lieferten sogar die Blaupause für die Agenda 2010. Aber dann sahen sie die Finanzkrise nicht kommen.

2014 folgte die öffentliche Entzauberung der Wirtschaftsweisen. Andere Ökonomen und Journalisten wiesen ihnen bei ihrem Jahresgutachten handwerkliche Fehler nach, warfen ihnen sogar "Irreführung" vor. Die SPD schimpfte über die politische Einseitigkeit des Gremiums. Für diesen Vorwurf gibt es durchaus Argumente.

Vorschläge sind auch in der Wissenschaft umstritten

Vier der fünf Wirtschaftsweisen zählen zu den eher konservativen, "angebotsorientierten" Ökonomen. Das heißt: Sie gehen davon aus, dass gute Rahmenbedingungen für Unternehmen langfristig für mehr Wachstum sorgen.

Nur ein Mitglied des Gremiums, der Würzbürger Professor Peter Bofinger, tritt für eine "nachfrageorientierte" Politik ein. Bei dieser geht es darum, für mehr Konsum zu sorgen. Bofinger widerspricht daher auch am Mittwoch den Empfehlungen der anderen vier Wirtschaftsweisen. Und bekommt prominente Unterstützung.

DIW-Chef wirft Wirtschaftsweisen Widersprüche vor

Marcel Fratzscher, der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, dem eine Nähe zur SPD nachgesagt wird, meldet sich gleich mehrfach über Twitter zu Wort.

Er wirft den vier tonanagebenden Wirtschaftsweisen Widersprüchlichkeit vor, weil sie auf der einen Seite ein Ende der Umverteilung forderten – gleichzeitig aber für die Abschaffung des Solidaritätszuschlags plädierten. Aus Fratzschers Sicht wäre das eine massive Umverteilung von unten nach oben.

Der Finanzexperte der Grünen, Gerhard Schick, teilt auf Twitter Fratzschers Beiträge. Mit Blick auf die Sondierungen endet der Mittwoch also unentschieden – höchstens mit einem kleinen Vorteil für die FDP.

CDU bestimmt die Lesart der Steuerschätzung

Am Donnerstag legt dann der Arbeitskreis Steuerschätzung seine neuesten Berechnungen vor. Die Debatte geht von vorne los.

In den kommenden vier Jahren kann der Staat mit rund 15 Milliarden Euro mehr Geld planen als bisher gedacht. Abermals sieht sich die FDP bestätigt. „Das bedeutet, dass die Entlastung, die wir fordern, möglich ist“, sagt ihr Finanzexperte Volker Wissing. Doch die Lesart der Steuerschätzung gibt jemand anderes vor: Peter Altmaier, CDU, der geschäftsführende Bundesfinanzminister – und damit Auftraggeber des Gutachtens.

Altmaier präsentiert die Zahlen persönlich – und warnt sofort: Der zusätzliche Spielraum dürfe nicht überschätzt werden. Ganz die Linie der Union. Zwar gebe es bei den Sondierungen viele Wünsche der einzelnen Parteien. "Dennoch müssen wir bereit sein, Prioritäten zu setzen", so Altmaier.

Grüne: Kein "Wünsch-Dir-Was"

Die Grünen schließen sich dieser Interpretation der Zahlen zügig an. Parteichef Cem Özdemir sagt, es könne kein "Wünsch-Dir-Was" geben. Oberste Priorität müsste der Klimaschutz haben. Würde sich die FDP bei der Abschaffung des Soli durchsetzen, "dann wäre das, was an Spielraum heute präsentiert wurde, auf einen Schlag weg", teilt Özdemir aus.

Fazit: Experten und Studien haben nur begrenzten Einfluss

Weil sich die Wissenschaftler nicht einig sind, welche Wirtschaftspolitik am besten für Deutschland ist, können sich alle Jamaika-Verhandler die Experten aussuchen, die ihre Linie unterstützen. Selbst Wort der Wirtschaftsweisen hat kaum noch mehr Gewicht als das anderer Ökonomen. Das Beispiel Steuerschätzung zeigt, dass dieselben Zahlen im Zweifel als Argumente für gegensätzliche Meinungen verwendet werden können. Der Einfluss von Experten und Studien auf die Politik ist also begrenzt.