Schriftzug "Lieferkettengesetz"
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Seit 1. Januar 2023 in Kraft: Das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz, kurz "Lieferkettengesetz".

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Wunsch und Wirklichkeit: "Lieferkettengesetz" im Realitäts-Check

Seit Januar sind Unternehmen zu erhöhter Sorgfalt bei Lieferanten verpflichtet. Zugleich arbeitet die EU an noch weitergehenden Regeln zum Schutz von Menschen- und Umweltrechten. Für Kritiker ist "gut gemeint" nicht "gut gemacht".

Über dieses Thema berichtet: BR24 im BR Fernsehen am .

Das "Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz" verpflichtet Bestellerbetriebe ab 3.000 Mitarbeitern, die Einhaltung von Menschenrechten, Arbeitnehmerrechten und Umweltschutz auch bei den internationalen Lieferanten zu gewährleisten. Damit wird die Kontrollfunktion des Staates mit auf die Marktteilnehmer in der Wirtschaft verlagert. Auch sie sollen nun sicherstellen, dass diese Schutzgüter von ihren Geschäftspartnern beachtet werden.

Das Vorhaben könnte nicht ehrgeiziger sein. In der Gesetzesbegründung vom April 2021 wird "eine Verbesserung der weltweiten Menschenrechtslage entlang von Lieferketten" als Ziel formuliert. Die Befürworter solcher Regulierung verweisen auf Kinderarbeit, Gesundheitsrisiken und Gewerkschaftsverbote etwa in Billiglohnländern wie Indien oder Bangladesch. Typische Produkte wie Schuhe oder Lederwaren landen dann in deutschen Läden nach einer langen Lieferkette, die bereits in ihren Anfängen weder Menschenrechte noch Umweltschutz berücksichtigt.

Der Sinn sauberer Lieferketten ist unstrittig. Dass dies freiwillig funktioniert, verneinen jedoch die Befürworter gesetzlicher Regelungen. Deren Argumente bündeln sich in der "Initiative Lieferkettengesetz". Vor vier Jahren wurde die Initiative gegründet, um das damals in Planung befindliche deutsche Lieferkettengesetz im öffentlichen Bewusstsein zu verankern und Einfluss auf die Politik nehmen.

Harsche Reaktionen aus der Wirtschaft

Die Reaktion der Interessenverbände ist eindeutig: Sie warnen lautstark vor negativen Folgen für die Wirtschaft mit Begriffen wie "Bürokratiemonster", "voreilig" oder "Paradebeispiel für Unberechenbarkeit". Das Anliegen selbst halten die meisten Unternehmer für legitim. Doch sie befürchten deutlich höhere Kosten und Wettbewerbsnachteile, klagen über die Bürokratie. Und sie zweifeln, ob das Gesetz seine Ziele wirklich erreicht.

Hat der Gesetzgeber also beim Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz selbst nicht sorgfältig genug gearbeitet? Nachfragen bei Fachleuten für regelkonforme Unternehmensführung legen dies nahe.

"Das Gesetz bereitet vielen deutschen, gerade mittelständischen Unternehmen erhebliche Schwierigkeiten in der Umsetzung. Denn eigentlich wollen Unternehmen ja Produkte entwickeln, produzieren und vertreiben, nicht aber eine Papierfabrik werden, die diverse Behörden mit Auskünften beglückt", so das Zwischenfazit des international tätigen Compliance-Anwalts Dr. Gregor Sobotta von der Düsseldorfer WTS-Group.

Wo ist Verbesserungspotenzial und welche Themen sind aus Sicht von Experten besonders kritisch?

Zu viel des Guten durch Überregulierung?

Dafür spricht einiges. Denn neben dem bereits geltenden deutschen Recht wird die EU mit gleich drei Richtlinien nachziehen. Mit "CBAM" (Carbon Border Adjustment Mechanism) sollen Unternehmen ab 2026 den CO₂-Gehalt ihre Lieferungen erfassen und gegebenenfalls dafür zahlen. Mit der "Entwaldungsrichtlinie" (EU) 2023/1115 werden Unternehmen verpflichtet zu bestätigen, dass ihre importierten Waren nicht zur Entwaldung im Herkunftsland beigetragen haben.

Am weitesten fortgeschritten ist die "EU-Lieferketten-Richtlinie". Sie ist an mehreren Stellen deutlich strenger als das deutsche Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz. Wie BR24 aus informierten Kreisen erfuhr, verhandeln EU-Rat und EU-Parlament noch über fast alle wesentlichen Punkte, von Haftungsfragen bei Verstößen der Geschäftsleitung bis zur Frage, ab welcher Mitarbeiterzahl die Richtlinie greifen soll.

Warten auf EU-einheitliche Regeln

Aus Sicht der deutschen Unternehmen ist eine einheitliche EU-Gesetzgebung zwar grundsätzlich zu begrüßen, weil damit theoretisch gleiche Regeln für alle Wettbewerber gelten. Aber die berechtigte Frage steht im Raum: Hätte der deutsche Gesetzgeber bis dahin nicht warten und den Unternehmen so vorzeitigen Aufwand ersparen können? "Dieser gesetzgeberische Aktionismus stellt Unternehmen vor große Herausforderungen", so Compliance-Experte Sobotta.

Der Eindruck wurde diese Woche bestätigt durch verwirrende Informationen aus Bundeswirtschafts- und Bundesarbeitsministerium. Zunächst wurde angekündigt, die gesetzliche Berichtspflicht um zwei Jahre zu verschieben und so den Unternehmen entgegenzukommen. Kurz darauf wurde diese Aussage vom Wirtschaftsministerium wieder zurückgenommen. Der Verband der Familienunternehmer spricht offen von "Chaos" und "Panik".

Handwerkliche Fehler?

Der deutsche Gesetzgeber gebe mit dem Lieferkettengesetz den Unternehmen nicht viel Substanz an die Hand, beklagen Praktiker. Eine Vielzahl von unbestimmten Rechtsbegriffen und auslegungsbedürftigen Termini sowie Verweise auf entlegene Regelungswerke der Vereinten Nationen stifteten mehr Verwirrung als Nutzen. "Die Anforderungen des deutschen Lieferkettengesetzes lassen reichlich Interpretationsspielraum, hoffentlich wird das geplante Lieferkettengesetz der EU konkreter", so Thomas Germer, Einkaufsleiter des ADAC, in der "FAZ" vom 26. September 2023. So fehlt zum Beispiel eine Länderliste, die den Unternehmen Hilfestellung bei der Beurteilung der Risikoexposition gäbe. Diese Beurteilung müssen nun die Unternehmen selbst und in eigener Verantwortung vornehmen. Die Bundesregierung könnte zum Beispiel Problemstaaten auf einer "Black List" nennen. Das will sie aber nicht, weil sie es sich mit den Ländern nicht verderben will, vermutet Unternehmensberater Sobotta.

Von der kommenden EU-Regelung ist allerdings keine Abhilfe zu erwarten, wie BR24 aus Brüsseler Beobachterkreisen erfuhr. Im Gegenteil sollen auch Lieferungen aus EU-Mitgliedsstaaten nicht als "sicherer Hafen" gelten. Dies hätte den Aufwand für die Unternehmen entscheidend reduziert, ist aber dem Vernehmen nach vom Tisch.

Erhebliche Mehrkosten?

Bundesregierung und EU gehen nicht von erheblichen Mehrkosten für betroffene Unternehmen aus. Das Handelsblatt Research Institute rechnet mit einem Wert unterhalb von einem Prozent vom Umsatz. Gleichzeitig ist aber unstrittig, dass bei Personal, neuer Software und Beratungsbedarf Mehrkosten entstehen, die sich auf Gewinn, Investitionen und Preise der Unternehmen auswirken werden. Dabei gilt grundsätzlich: je geringer Umsatz und Gewinn, desto höher die relative Last von Bürokratiekosten. Bislang ist die Datenlage für belastbare Aussagen ungenügend, einzelne Fallbeispiele liegen aber vor. So beziffert der norddeutsche Stahlbauer Butzkies, ein Familienunternehmen mit 30 Millionen Jahresumsatz, seine entstandenen Kosten alleine für die ISO-Zertifizierungen zu Arbeitsschutz und Energiemanagement auf rund 100.000 Euro. Geld, das nach eigenen Aussagen für eine neue Montagehalle fehlt.

Befürworter des Gesetzes argumentieren, dass die erfolgreiche Erfüllung solcher Anforderungen ein Wettbewerbsvorteil werden kann, der diesen Aufwand lohnt.

Kleine Unternehmen sogar stärker betroffen?

"Es zeigt sich, dass es zu einem Kaskadeneffekt kommt, da die Anforderungen der großen Unternehmen an die kleinen und mittleren Unternehmen durch Anfragen weitergegeben werden", stellte der DIHK im "Handelsblatt" vom 24. August 2023 fest. Eine BR24-Umfrage unter bayerischen Unternehmen bestätigt diese Prognose. "Obwohl unsere Betriebe diesem Gesetz eigentlich gar nicht unterliegen, hat die damit einhergehende Bürokratie inzwischen auch das Handwerk erreicht. Große Unternehmen geben ihre Verpflichtungen ohne Rücksicht eins zu eins weiter", sagt Franz Xaver Peteranderl, Präsident des Bayerischen Handwerkstages (BHT).

"Die umfangreichen Pflichten sickern entlang der Lieferkette zu unseren Betrieben durch. Handwerksbetriebe sehen sich teilweise mit bis zu 85-seitigen Fragebögen konfrontiert, die einen betriebseigenen Verhaltenskodex und verschiedene Managementsysteme fordern. Ohne spezielle Fachabteilungen kann ein normaler Handwerksbetrieb diese Fragebögen nicht beantworten." Dr. Frank Hüpers, Hauptgeschäftsführer Bayerischer Handwerkstag

Selbst BMW überfordert?

Indirekt bestätigt werden diese Einschätzungen durch die bekannt gewordenen Vorwürfe gegen BMW. Medienberichten zufolge soll ein marokkanischer Rohstofflieferant für Elektrobatterien der Marke massiv Umwelt- und Arbeitsschutzstandards missachtet haben. Ein Sprecher sagte, BMW habe Untersuchungen gestartet und den Lieferanten zu einer Stellungnahme aufgefordert. Dabei hatte der Großkonzern bereits massiv in den Schutz sauberer Lieferketten investiert, wie der Geschäftsbericht 2022 ab Seite 143 ausführlich darlegt. Laut einem Unternehmenssprecher sollen nun "unabhängige Audits" für Klarheit sorgen - also externe Prüfberichte, die wiederum Kosten verursachen.

Daraus ergibt sich die Frage: Wenn selbst international aktive Großkonzerne wie BMW mit ganzen Compliance-Abteilungen von solchen Vorgängen überrascht werden, wie soll ein kleiner Mittelständler das schaffen?

Weitere offene Fragen

Neben diesen Themen wird auch bezweifelt, ob das Gesetz seinen Schutzzweck überhaupt erreicht. So wird zum Beispiel befürchtet, dass kleine Kaffeebauern in Äthiopien Opfer des Lieferkettengesetzes werden. Weil die Kleinbauern die nötigen Nachweise nicht erbringen könnten, wichen die Röster mit ihrem Einkauf deshalb auf Länder wie Brasilien oder Vietnam aus, wo Kaffee von großen Betrieben angebaut werde. Die anderen 30 bis 40 Länder auf der Welt, in denen nach Schätzungen acht Millionen Kleinbauern Kaffee anbauen, blieben außen vor, so Sebastian Brandis von der Stiftung "Menschen für Menschen".

Ähnliche Bedenken hat auch der kommissionsinterne Prüfungsausschuss der EU beim geplanten EU-Lieferkettengesetz geäußert. "Vernichtend", wie die Berichterstatterin Angelika Niebler (EVP) kommentiert: "Wenn Unternehmen aus Ländern mit geringeren Standards wie China diese Lücke füllen, wird niemandem geholfen - weder der Umwelt, noch den Menschen vor Ort."

Deutsche Unternehmer warnen auch vor Wettbewerbsnachteilen durch unterschiedlichen Vollzug der Regelungen in verschiedenen Staaten. Möglich wäre es, weil die kommende EU-Richtlinie keine EU-Verordnung im strengen Sinn sein wird, sondern Spielraum für die Ausgestaltung in den Mitgliedsstaaten lässt.

Bislang ist auch offen, wie weit künftig der Verantwortungsbereich der Unternehmen tatsächlich reichen soll und kann. Was, wenn ein Zulieferbetrieb etwa in Indien oder China die Arbeitsbedingungen unbemerkt wieder verschlechtert? Ab wann handelt dann der deutsche Auftraggeber "fahrlässig" oder gar "vorsätzlich". Komplizierte juristische Definitionsfragen, über die ebenfalls gerade auf europäischer Ebene verhandelt wird.

Befürchtet wird zudem, dass die deutsche Regulierung abschreckend auf Käufer in anderen Teilen der Welt wirkt. Statt "Made in Germany" als Qualitätssiegel wird das abwertende, inoffizielle Label "German Free" mittlerweile global für angeblich zu viel Moral, zu hohe Preise, zu wenig Technologiekompetenz deutscher Produkte verwendet.

Wie wirksam sind Kontrolle und Sanktionen?

Das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (Bafa) soll die Einhaltung der Gesetzesvorschriften kontrollieren und Verstöße sanktionieren. Kommen Unternehmen ihren Pflichten nicht nach, kann das Bafa Nachbesserungen verlangen. Bei schwerwiegenden Verstößen drohen Bußgelder. Auf der Homepage der Behörde finden sich Hilfestellungen, im Oktober gab es einen Kongress für die Transportbranche. Im Dezember will das Bafa eine erste Bilanz ziehen. Nach dem ersten Jahr zeichnet sich ab, dass der Großteil der erfassten Unternehmen sich ernsthaft mit den Anforderungen des Gesetzes auseinandersetzt, so das Bafa auf BR24-Anfrage. Bafa-Präsident Torsten Safarik setzt dabei nach eigenen Worten auf einen "kooperativen Ansatz".

Schon jetzt ist klar, dass der Arbeitsanfall erheblich sein wird. Deshalb investiert der Bund massiv, unter anderem in rund 500 Planstellen und ein IT-Tool, in das Unternehmen ihre Auskünfte einpflegen sollen.

Im Audio: Was bringt das europäische Lieferkettengesetz?

Bangladesch, Sabhar: Beschäftigte der 4A Yarn Dyeing Ltd. arbeiten in der Fabrik in Kaichabari im Industriegebiet im Sommer 2022.
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Textilarbeitende in Bangladesch

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