Eine Schriftrolle der herkulanensischen Papyri beim Scan im Teilchenbeschleuniger
Bildrechte: Vesuvius Challenge / EduceLab / The University of Kentucky

Eine Schriftrolle der herkulanensischen Papyri beim Scan im Teilchenbeschleuniger der Universität Oxford

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Mit KI auf der Jagd nach den Geheimnissen der Antike

Die "Herkulanensischen Papyri" galten als unwiederbringlich verloren. Nun wurden sie entziffert - mithilfe eines Teilchenbeschleunigers, künstlicher Intelligenz und einem Wettbewerb im Internet.

Über dieses Thema berichtet: IQ - Wissenschaft und Forschung am .

Im Jahr 79 nach Christus begräbt der Vesuv die römischen Städte Pompeji und Herkulaneum unter Lava und Asche – und damit auch die Bibliothek der Villa von Lucius Calpurnius Piso, dem Schwiegervater Julius Caesars. In ihr befinden sich hunderte wertvolle Schriftrollen. Seit der Ausgrabung der Villa im Jahr 1750 faszinieren die karbonisierten "Herkulanensischen Papyri" die Forschung. Denn im Inneren der kohlschwarzen Ascheblöcke warten unbekannte antike Texte auf ihre Entdeckung. Lange jedoch ist jeder Versuch gescheitert, die fragilen Überreste zu öffnen oder gar zu lesen. Einer ungewöhnlichen Allianz aus Forschern, Computernerds und Tech-Unternehmern gelang nun der Durchbruch.

Berliner Student macht den entscheidenden Durchbruch

Eigentlich hat Youssef Nader nicht viel mit alten römischen Schriftrollen am Hut. Der 27-Jährige studiert in Berlin Informatik, nimmt gerne an KI-Wettbewerben im Internet teil. Seine Spezialität ist maschinelles Lernen, also: einer KI beizubringen, wie sie in chaotischen Datenhaufen komplexe Muster erkennen kann.

Internet-Community knackt den Code der alten Schriften

Nader ist Mitglied der Internet-Community Kaggle, in der sich KI-Fans gegenseitig mit Rätselaufgaben aus der Welt des Machine Learning herausfordern. Am liebsten mag er dort ungewöhnliche Aufgaben, die kreatives Denken erfordern. So wird er auf die "Vesuvius Challenge" aufmerksam - und ist sofort neugierig: "Das Tolle an der Vesuvius-Challenge ist einerseits, dass es da dieses knifflige technische Problem gibt, das echt schwer zu lösen ist, und dazu kommt auch noch der historische Aspekt, der mich fasziniert hat, selbst wenn ich mal nicht vorankam." Der gebürtige Ägypter fühlt sich an die Entschlüsselung des Steins von Rosette erinnert - und macht sich ans Programmieren.

Teilchenbeschleuniger durchleuchtet die verkohlten Schriftrollen

Die Bilder, die Youssef mit seiner KI auslesen will, stammen aus einem Teilchenbeschleuniger in Oxford. Mit diesem durchleuchtet ein Forscherteam um den Altertumswissenschaftler Brent Seales die Schriftrollen, ähnlich wie mit einem Röntgengerät. Doch obwohl die Scans hundertmal so genau sind wie klassische Röntgenbilder, bleiben die Worte unleserlich. Das Problem: die Schrift ist mit organischer kohlenstoffbasierter Tinte geschrieben und das Papyrus selbst ist ebenfalls kohlenstoffbasiert. Auf den Bildern ist die Schrift für das menschliche Auge einfach nicht erkennbar.

Tech-Millionäre stiften Preisgeld

Durch Zufall kommen die Forscher in Kontakt mit dem Tech-Unternehmer Nat Friedman – und der hat eine Idee: "Ich habe vorgeschlagen, dieses Problem, an dem sie jahrelang gearbeitet hatten, mit der Welt zu teilen. Mein Hintergrund ist im Open Source Bereich, ich war damals CEO von GitHub. Für mich war das ein naheliegender Vorschlag: Können wir die Daten den talentiertesten Menschen der Welt zugänglich machen und so vielleicht eine Community aufbauen, die sich der Aufgabe annimmt?"

Friedman holt andere Unternehmer aus dem Silicon Valley dazu, gemeinsam loben sie einen Geldpreis aus: 700.000 Dollar für das erste Team, dem es gelingt, eine komplette Schriftrolle mit KI auszulesen. Unter tausenden Teilnehmern hat Youssef Nader, der KI-Student aus Berlin, als einer der ersten ein ganzes Wort entziffert und einen Teil des Preisgelds gewonnen. Das Wort: Porphyras – Altgriechisch für "lila". Nur der amerikanische Student Luke Farritor, der dasselbe Wort unabhängig von Nader ausgelesen hat, war noch ein paar Tage schneller.

Durchbruch begeistert nicht nur KI-Fans

Für den Würzburger Philologen Kilian Fleischer lässt sich die Bedeutung des Durchbruchs kaum übertreiben: "Das war der Moment, auf den ich selbst 15 Jahre gewartet habe, weil es unklar war, ob es überhaupt möglich sein würde, in diesen karbonisierten Rollen wirklich Text zu lesen. Als ich das erfahren habe, war ich überglücklich, ich war ein sehr glücklicher Papyrologe, weil mir die Tragweite dieses Durchbruchs unmittelbar klar war. Verlorene Werke der Antike, verlorene antike Literatur im großen Stil wird jetzt zutage kommen." Fleischer steht seit Jahren in beruflichem Austausch mit Brent Seales, der die ersten Scans der Papyri vorantrieb.

Bis Ende des Jahres haben die Teilnehmer der Vesuvius Challenge, um eine komplette Schriftrolle zu entziffern. Doch für Kilian Fleischer ist das erst der Anfang. Er hofft, dass die Durchbrüche dazu führen, dass es neue Ausgrabungen in Herkulaneum geben wird. Denn in der Villa von Lucius Calpurnius Piso werden noch mehrere unentdeckte Räume mit hunderten weiteren Schriftrollen vermutet.

🎧 Wie schnell entwickelt sich KI weiter? Und welche Programme sind in meinem Alltag wirklich wichtig? Antworten auf diese und weitere Fragen diskutieren Gregor Schmalzried, Marie Kilg und Fritz Espenlaub jede Woche in "Der KI-Podcast" – dem neuen Podcast von BR24 und SWR.

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