Der Autor Deniz Utlu (schwarze Haare, schlichte Brille) auf der Straße.
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Der Autor Deniz Utlu

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"Vaters Meer": Deniz Utlus bislang stärkster Roman

Deniz Utlu ist mit seinem neuen Roman ein beeindruckendes Stück Literatur gelungen: Das Buch spielt mit der Dynamik von Erinnerung, blickt einfühlsam ins Leben einer Familie zwischen den Kulturen und beschwört die Kraft des Erzählens herauf.

Über dieses Thema berichtet: Diwan - Das Büchermagazin am .

Dieser Roman versammelt viele Bilder, die einem Leser, einer Leserin nicht mehr aus dem Kopf gehen wollen. Eines davon ist diese Faust auf dem Rücksitz eines Taxis, eine Faust, die Symbol sowohl von Schwäche als auch von Stärke ist: "Wir sprachen während der Fahrt nicht mit Worten, nur mit Berührungen, hielten uns an den Händen. Die warme Hand meiner Mutter. Unsere Finger ineinander verschränkt, unsere beiden Hände, eine Faust auf dem Rücksitz eines Taxis, das uns entlang der Grenze der Welt fuhr."

Die beiden Figuren, die hier auf der Rückbank sitzen, wissen genau, dass sie von jetzt an nur noch sich haben. Yunus' Vater ist gefallen, wie Deniz Utlu es formuliert, und das zweimal: Zwei Schlaganfälle in rascher Folge machen aus einem Mann, der ohnehin oft abwesend wirkte, einen tatsächlich abwesenden Vater.

"Locked in Syndrom" lautet die Diagnose, die Mutter und Sohn mit gemeinsam geballter Faust beantworten: Der Vater und Ehemann wird nie mehr eigenständig sprechen, essen, trinken, gehen oder lachen können. Aber einfach weg ist er auch nicht.

Aufbruch ins Erzählen

Yunus ist Teenager, als das passiert, und zunehmend sprachlos. Genau diese Sprachlosigkeit ist es, die Deniz Utlu in seinem Roman antreibt und aufbricht.

Als wir Yunus kennenlernen, ist er zu einem Mann herangewachsen, der sich seinen Erinnerungen stellt und ins Erzählen kommt: über seine Jugend, die Rolle des Vaters in dieser Jugend, das eigene Erwachsenwerden, vor allem aber über das Leben des Vaters.

"Yunus sagt ja irgendwann: 'Ich möchte nur noch dem Vater in mir folgen und nicht andere Menschen dazu befragen, die ihn vielleicht mal kannten'", so Autor Deniz Utlu.

Den Grund dafür versteht schnell, wer der Roman aufschlägt: Jeder Mensch, auch die Figuren dieses Textes, verraten mindestens so viel über sich selbst wie über den Menschen, von dem sie eigentlich sprechen wollen.

Jedes Erzählen über jemanden, so Utlu, sei ein Erzählen über sich selbst. "Das weiß dieser Text und versucht damit umzugehen und trotzdem die Geschichte des Vaters zu erzählen und dadurch gleichzeitig – quasi vermittelt – die Geschichte des Erzählers zu erzählen."

Moderne Odyssee

Und so ist "Vaters Meer" viel mehr als eine Vater-Sohn-Geschichte.

Es ist die Geschichte eines Vaters, so wie der Sohn sie sich ausmalt: eine Abenteuererzählung, die vom kleinen Mardin, nahe der syrischen Grenze, nach Hannover führt, die Einsamkeit, Scham und harte Arbeit genauso kennt wie Zärtlichkeit und familiäres Aufgehobensein.

Es ist das feinsinnige Porträt des verbliebenen Mutter-Sohn-Gespanns und Yunus' eigene Geschichte: Als Sohn türkischer Eltern in Hannover aufgewachsen, ist der ganz selbstverständlich im Deutschen zu Hause und weiß trotzdem, dass es mehr Sprachen braucht, um seine Lebensgeschichte zu verstehen.

Suchbewegung zur Zärtlichkeit

Von der Mehrsprachigkeit erzählt Deniz Utlu nicht bloß. Der Einsatz verschiedener Sprachen gehört zu den vielen berührenden Aspekten dieses Romans unbedingt dazu: In dieser einen Nacht zum Beispiel, die Yunus nicht loslässt, weil es die letzte Nacht ist, in der sein Vater sprechen kann, und er ihn abweist, in dieser Nacht also, sagt der Vater irgendwann nur: "In Ordnung, mein Kind." Auf Türkisch: "Peki yavrum."

Dieser letzte Satz des Vaters bildet den Schlüsselmoment der Geschichte, er entscheidet darüber, wie Yunus das Verhältnis zum Vater deuten, wie er selbst weitermachen kann. Was aber "Peki yavrum" bedeutet, was alles in diesem Satz steckt, verrät nicht eine Sprache allein.

"Die Übersetzung ist 'in Ordnung', aber dieses 'Ordnung' gibt überhaupt nicht wieder, was sich in dem Moment zwischen Vater und Sohn abgespielt hat", sagt Deniz Utlu und buchstabiert im Roman aus, was die Wendung verrät, wenn man ihr nur richtig zuhört: "Peki yavrum heißt: Ich küsse dich im Geiste, mein Kind, dass du dich im Augenblick einer Umarmung versperrst, und belasse das Thema, auch wenn es mir weh tut. Ich habe dich gehört, ich kann nicht weiter." (Zitat aus 'Vaters Meer' von Deniz Utlu)

Die Zärtlichkeit dieses Moments findet Yunus also nicht in einer Sprache, sondern indem er seine Sprachen miteinander ins Gespräch bringt. Dieselben Worte in unterschiedlichen Sprachen abklopfend, ihren Klang hin- und herwendend, entdeckt er die liebevolle Seite des Vaters.

Ein Erzählen jenseits von Gattungsgrenzen

An dessen Härte kommt der Sohn schneller heran – da ist zum Beispiel dieser Tag, an dem der Vater versprochen hatte, mit einem Kaninchen nach Hause zu kommen, Yunus sich ein Haustier erwartet, sehnsüchtig darauf hofft, und stattdessen ein Stück Fleisch kriegt, das er nicht anrührt.

Inhaltlich steckt ohnehin viel Hartes in diesem Roman – allein von der Scham der Familie in Deutschland zu lesen, ist ungemein bedrückend.

Vom Ton ist "Vaters Meer" dabei ein warmer Roman: Da ist keine Angst zu spüren, große Wörter in den Mund zu nehmen, auch keine Angst, Gefühl mit gefühlvoller Sprache zu erzählen, wenn sich das für den jugendlichen Erzähler richtig anfühlt.

Zu spüren ist vielmehr, wie viel Befreiung das Erzählen bereithält – ein Erzählen jenseits von Gattungsgrenzen übrigens: Bekenntnis und Zeugenschaft stecken in diesem eindrucksvollen Text.

Aber wenn Yunus sich den Vater in Erinnerung ruft, wenn er vor Augen hat, wie er selbst aus seinem Leben erzählt hat, dann blitzt doch auch die Verführungskraft von Märchen- und Abenteuererzählungen auf, die große Kraft mündlichen Erzählens.

"Vaters Meer" von Deniz Utlu ist für 25 Euro bei Suhrkamp erschienen und für den Bayerischen Buchpreis nominiert. Hier finden Sie alle nominierten Bücher.

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