Eine Frau läuft durch einen Raum, der wie eine knallrote Hello-Kitty-Figur gestaltet ist
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Ausstellung "Cuteness" in London

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"Soo niedlich": Was die Ästhetik der "Cuteness" mit uns anstellt

Niedliche Haus- oder Plüschtiere, niedliche Posen, niedliche Emojis: Die sozialen Medien bersten vor Niedlichkeit. Höchste Zeit nach den Effekten zu fragen, die süß aussehende Gegenstände auf uns haben.

Über dieses Thema berichtet: kulturWelt am .

Ein kleiner Hundewelpe schaut uns an. Gekleidet in einen rosa Anzug, mit einer kleinen Mütze auf dem Kopf. Vor lauter Freude ist seine winzige Zunge zu sehen. Der süße Hundewelpe ist ein Kinderspielzeug aus Plastik und: Teil einer Installation der amerikanischen Künstlerin Maggie Lee. Das Hündchen sitzt zusammen mit einer ebenfalls bezaubernden kleinen Puppe mit Kleidchen und blonden Haaren in einem Terrarium. Ein konservierter Kindheitstraum der 90er.

Auf den ersten Blick: cute. Auf den zweiten Blick haftet diesem ganzen entzückenden Ensemble etwas Steril-statisches an. Denn in ihrer ganzen Niedlichkeit sind Hundewelpe und Puppe auch: Gefangene im Glaskasten. Maggie Lee zeigt: Das Süße ist nicht frei von Widersprüchen. Die Kunst hat die Niedlichkeit für sich entdeckt. Und das bedeutet auch, die bisher in der Kunstwelt gültigen Gesetze infrage zu stellen.

Was süß ist, lässt uns nicht kalt

"Kulturelle Trends entstehen aus dem Impuls heraus, eine Differenz zum Status quo herzustellen, etwas Neues in den Blick zu nehmen", sagt die Medienwissenschaftlerin Annekathrin Kohout. "Dafür eignet sich Niedlichkeit ganz hervorragend, weil man Niedlichkeit lange nicht ernst genommen hat: zu kindlich, zu infantil, zu schwach, oberflächlich. Aber das neue Interesse an Cuteness oder Niedlichkeit ist auch ein Symptom für neue Erwartungen an die Kunst. Wir wollen Kunst nicht mehr nur auf Abstand und in kennerschaftlicher Distanz betrachten. Und dafür eignet sich Niedlichkeit sehr gut, weil es sich um eine Ästhetik handelt, die Nähe erzeugt, weil sie starke Emotionen hervorruft, die man sonst aus intimeren Beziehungen kennt, zum Beispiel Empathie und Fürsorge."

Was süß ist, lässt uns nicht kalt. Machen wir uns vielleicht sogar angreifbar, wenn wir das Niedliche dem Marketing überlassen? Emotionalisierung als Verkaufsargument – das hat ja immer bestens funktioniert. Für so gut wie jedes Produkt. Ein Beispiel: Das Pharmaunternehmen Purdue Pharma hat sein Schmerzmittel Oxycontin mit einer drolligen Kuscheltier-Pille als Gadget beworben. Immerhin ein Medikament, das in den USA eine Opioid-Epidemie mit Hunderttausend Toten ausgelöst hat. Das Niedliche dagegen ästhetisch ernst zu nehmen, heißt auch: Die Deutungshoheit über die Gefühle zurückzugewinnen, die es in uns hervorruft.

Schlechten Tag gehabt? Hier sind süße Alpakas!

Dass flauschige Kuscheltiere und Hundewelpen süß sind, darüber dürfte wenig Zweifel bestehen. Aber: Was genau nehmen wir eigentlich als niedlich wahr? In den 40er Jahren beschrieb der Ethnologe Konrad Lorenz die Kriterien dafür: ein im Vergleich zum Körper großer Kopf, große Augen, ein kleiner Abstand zwischen den Augen und generell rundliche Formen. Das Kindchenschema: Als Look strategisch nicht unschlau, denn wer klein ist, ist auf Fürsorge angewiesen. Und hat im Gegenzug nicht viel mehr zu bieten, als ... süß zu sein.

Das funktioniert übrigens auch auf Social Media, wo es weniger um Fürsorge, als um aufmerksamkeitsökonomische Marker wie Likes und Traffic geht: Auf Instagram oder Threads ist es zum Beispiel gängige Praxis, Bilder von süßen Tieren zu posten. Mit dem Hinweis: Wenn jemand einen schlechten Tag haben sollte, sind hier ein paar süße Alpakas.

Die Welt ist nicht grundsätzlich verloren

Aber sind Bilder von süßen Alpakas wirklich hilfreich, wenn die Krisenhaftigkeit der Welt beginnt, ernsthaft die Psyche anzugreifen? Wahrscheinlich nur bedingt. Für Annekathrin Kohout ist unser Wunsch, niedliche Tiere anzugucken, aber Symptom eines Wunsches nach mehr Miteinander: "Die Frage, wie wir in der heutigen Welt, die von Kriegen, Flucht, Klimawandel und sehr viel mehr gezeichnet ist, gut miteinander leben können und gut füreinander da sein können, beschäftigt uns ziemlich allumfassend. Insofern kann die Hinwendung zu einer Ästhetik der Zuwendung und des Niedlichen definitiv als Reaktion auf das wachsende Bedürfnis nach Trost, nach Fürsorge und auch nach einem Rückzug ins Heimelige, Kuschelige, Kleine aus dieser immer größer und ungemütlicher und anfälliger werdenden globalisierten Welt wahrgenommen werden."

Das Niedliche als eine wichtige Erinnerung daran, dass neben den Nachrichten, die wir täglich in den Feeds haben – und gegen die wir uns vielleicht abzuhärten versuchen – auch weiche, warme, flauschige Gefühle wie Empathie, Sich-umeinander-Kümmern immer noch möglich sind. Oder anders gesagt: Eine Welt, die etwas derart Niedliches hervorbringen kann, wie Hundewelpen oder Alpakas –die ist noch nicht grundsätzlich verloren.

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