Der russische Präsident vor zwei TV-Mikrofonen
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Putin gibt ein "Spontan"-Interview

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"Selbstzerstörung im Gange": Heftige Kritik an Putins Strategie

Seit der russische Präsident die Söldnertruppe Wagner als rechtlich "nicht existent" bezeichnete, hagelt es Kritik und Hohn, denn der Staat habe die Firma ja mit hunderten von Millionen Euro finanziert: "Es begann das übliche Sado-Maso-Spiel."

Wenig schmeichelhaft, dass Putin neuerdings mit "leichtgläubigen Rentnern" verglichen wird, die auf Telefonbetrüger hereinfallen: "Ich verstehe die ganze Überraschung überhaupt nicht, dass sie 86 Milliarden Rubel an eine nicht existierende Struktur gezahlt haben", so ein Blogger, der ironisch darauf verweist, dass Russen ja häufiger hohe Beträge an irgendwelche fiktiven Firmen überweisen, hinter denen falsche Beamte stecken. Grund für diese Polemik: Putin hatte in einem Interview behauptet, die Privatarmee von Jewgeni Prigoschin gebe es rein rechtlich gar nicht. Es fehle das nötige Gesetz dafür: "Die Private Military Company (PMC) Wagner existiert nicht." Wenige Tage zuvor hatte Putin allerdings verkündet, der Staat habe umgerechnet fast eine Milliarde Euro an die obskure Truppe überwiesen.

"Das ging Putin an die Nieren"

Das hielten nicht wenige Beobachter für widersinnig, ja grotesk. Ein Blogger fühlte sich an das berühmte Gedankenexperiment von "Schrödingers Katze" erinnert: Der gleichnamige Wissenschaftler wollte damit 1935 die Unschärfen in der Quantenphysik deutlich machen und stellte sich einen Zustand vor, in dem eine Katze gleichzeitig tot und lebendig ist. Solche Paradoxien gibt es auf der Ebene der Elementarteilchen, und offenbar neuerdings auch in der russischen Politik: "Es gibt Wagner nicht als juristische Person, aber sie bekommen eine staatliche Finanzierung über 80 Milliarden."

Der Reporter des russischen Wirtschaftsblatts "Kommersant", der Putin befragt hatte, machte sich selbst lustig über dessen Antworten, wobei zu bedenken ist, dass Andrej Kolesnikow gern zur Satire neigt. "Putin schien wie ein Anwalt aufzutreten. Das ist nur allzu verständlich", schrieb der Journalist. Offenbar sei die Rebellion von Prigoschin dem Präsidenten wirklich an die Nieren gegangen: "Auch wenn er das abstreiten würde." So hatte Putin die Anekdote beigesteuert, er habe bei seinem Treffen mit 35 Kommandeuren allen die Weiterbeschäftigung zu neuen Bedingungen angeboten: "Viele nickten, als ich das sagte. Und Prigoschin in der ersten Reihe, der diese Reaktion [hinter ihm] nicht sehen konnte, sagte prompt: Nein die Jungs sind mit diesem Angebot nicht einverstanden."

"Leute, ihr habt uns belogen"

Dieser konfuse Auftritt und die noch konfusere Argumentation Putins haben eine ganze Lawine von Spott losgetreten. "Es gab bei uns mal ein Sprichwort: Den Dulles-Plan [die Sowjetunion von innen heraus zu untergraben] gibt es nicht, aber er funktioniert", so ein Blogger. Politologe Anatoli Nesmijan konstatierte, dass Putin nach seinen eigenen Worten jahrelang eine "illegale bewaffnete Gruppe" mit Waffen und Munition ausrüstete und insofern für deren Taten mitverantwortlich sei.

"Diese ganze Debatte über die Existenz von PMC Wagner, darüber, wer und in welchem ​​Umfang sie finanziert hat, spricht vor allem Bände über die moralischen Grundlagen unserer Regierung und ihre Haltung gegenüber der Bevölkerung. Leute, ihr habt uns belogen. Und wenn ihr es nicht einsehen wollt, dann sind wir nicht so dumm, wie ihr denkt (zumindest nicht alle)", schrieb Blogger Wjatscheslaw Kusmenko, der selbst nur unbedeutende 622 Follower hat, aber von Portalen mit hunderttausenden von Fans zitiert wurde. Spöttisch wurde darauf verwiesen, dass überall in Russland Werbeplakate für die "nicht existierende" Sölderarmee zu sehen waren. Sogar der Sohn von Kremlsprecher Dmitri Peskow habe sich gebrüstet, bei Prigoschin angeheuert zu haben.

Ein weiterer Meinungsmacher fühlte sich durch Putins paradoxe Auftritte an das sprichwörtliche "Gespenst des Kommunismus" erinnert, das nach Karl Marx durch Europa spuke. Offenbar sei die Wagner-Truppe ein ähnliches "Phantom", mit dem sich der Kreml "aus der Not heraus" von Fall zu Fall arrangieren müsse: "Hinter der unerwarteten Aussage des Präsidenten, dass es Wagner im rechtlichen Sinne nie gegeben hat und gibt, kann man ein Signal an die besorgte internationale Gemeinschaft sehen, dass sich der Staat der Russischen Föderation von bestimmten Bereichen und Ergebnissen der Aktivitäten dieser PMC distanziert."

"Ich stand zwischen Rinnsalen"

Es wäre jetzt gut, mit der "Rettung der russischen Verfassung" anzufangen, die viele Verantwortliche gern als "moralisierende Parabel" abtäten, so Politologe Ilja Graschtschenkow. Ihr Zustand müsse wieder auf ein "akzeptables Niveau" angehoben werden. Die zerfallende Elite habe angesichts von Putins Schwäche eine "abwartende Haltung" eingenommen und "bizarrste Überlebensstrategien" entwickelt. Vor allem lege sie ihre "Eier in verschiedene Körbe". Was er damit meint, erläuterte der Experte mit einem alten sowjetischen Witz: "Stalin lud alle Mitglieder des Zentralkomitees in seine Datscha ein und plötzlich setzte heftiger Regen ein. Jeder wird nass bis auf die Haut, nur [das damalige formelle Staatsoberhaupt] Anastas Mikojan bleibt trocken. Auf die Frage, wie er es geschafft habe, nicht nass zu werden, antwortete er: 'Ich stand zwischen den Rinnsalen, ich war dazwischen.'"

"Staat muss neu aufgebaut werden"

Nach Gratschtschenkows Ansicht seien allerlei "seltsame Menschen" auf der Bildfläche erschienen, einschließlich Monarchisten - eine Anspielung auf den Oligarchen und Medienzaren Konstantin Malofejew: "Manche wollen einen König, andere wollen einen Anführer, wieder andere wollen ein Meerrettich-Dressing. Dies führt zu beunruhigenden Gedanken darüber, dass die Russische Föderation selbst in ihrer früheren [stabilen] Form nur von wenigen Menschen akzeptiert wurde. Ultrakonservative betrachten sie zunehmend als ironischen Abgesang auf ein verlorenes Imperium und Ultraliberale als hässlichen Restposten desselben. In einer solchen Situation muss der Staat abermals von Grund auf neu aufgebaut werden."

Ähnlich sieht es die Bloggerin und kremltreue Politikerin Anastasia Kaschewarowa. Das Machtsystem versuche sich derzeit nur noch selbst in Sicherheit zu bringen, eine Kommunikation zur Front finde nicht mehr statt, wie der Fall des aufsässigen Generals Iwan Popow beweise: "Ich platze aus allen Nähten, Leute. Selbstzerstörung ist im Gange. Niemand bleibt verschont. Deshalb muss das System neu aufgebaut werden, dem Militär muss geholfen werden, bürokratische Beamte müssen zur Rechenschaft gezogen werden. Und ja, an leistungsfähigen Militärs muss festgehalten werden, auch wenn sie Mut beweisen. Schließlich sind sie es, die gewinnen." Söldner würden nicht durch "idiotische Gesetze und Papierkram" behindert, während es an der Spitze der Armee "bereits brodele": "Alle sind nervös."

"Ein Schritt von Apathie zur Explosion"

Der im Exil lebende Politologe Abbas Galljamow schrieb in seinem Telegram-Chat: "Viele Menschen halten die derzeitige öffentliche Apathie für eine Konstante. Tatsächlich ist bekannt, dass es von der Apathie bis zur Explosion manchmal buchstäblich nur ein oder zwei Schritte braucht." Die Dynamik von Protestbewegungen gehöre zu den "unvorhersehbarsten Dingen" der Welt: "Jeder mag wissen, dass eine Revolution bevorsteht, aber nur wenige werden erraten, wann genau sie stattfinden wird. Selbst Menschen, die beruflich an der Vorbereitung dieser Revolution beteiligt sind, werden sie nicht vorhersagen können. Es ist bekannt, dass Lenin genau einen Monat vor dem Untergang des Romanow-Zarenreiches in Zürich einen Vortrag vor jungen Leuten hielt und unter anderem sagte: 'Wir alten Leute werden die bevorstehenden entscheidenden Schlachten der Revolution vielleicht nicht mehr erleben.'"

"Das übliche Sado-Maso-Spiel"

Solange in Moskau ein "Machtungleichgewicht" bestehe, argumentierte Politologe Dmitri Michailitschenko, gebe es auch keine funktionierenden Spielregeln. Bis vor kurzem hätten sich sowohl die Clans, als auch die Bevölkerung jeweils mit ihren eigenen Problemen beschäftigt, ohne sich gegenseitig ins Gehege zu kommen: "Dieser Konsens wird von allen als wünschenswert und notwendig anerkannt, es ist jedoch unwahrscheinlich, dass er unter den Bedingungen eines dauerhaften Ausnahmezustands vollständig eingehalten werden kann."

Rechtsaußen Igor Strelkow wetterte: "Was könnte der Präsident tun, der sich seit anderthalb Jahren fleißig den verfassungsmäßigen Pflichten des Oberbefehlshabers entzieht? Söldnern ins Gewissen reden? Das wäre ein Witz wie die Suche nach unschuldigen Mädchen in einem Bordell. Der Präsident war entweder um eine Entscheidung verlegen oder hatte Angst, Befehle zu erteilen oder zu drohen. Nun, was passiert ist, ist passiert: Die [Wagner-]'Musiker' gingen weiter ihren Geschäften nach und der Präsident begann das übliche 'Sado-Maso-Spiel': Er begann sich bei der Öffentlichkeit zu beschweren, dass er erneut 'betrogen' und gedemütigt wurde und sie keinen Penny wert waren, der alte Narr."

Der Propagandist Sergej Markow versuchte eine weniger wüste Deutung von Putins Auftritten: "Das bedeutet, dass die russischen Behörden offenbar alle Projekte mit allen PMCs zusammenstreichen werden. Die Risiken waren zu groß. Die russischen Behörden werden nun versuchen, Prigoschin alle Wagner-PMC-Kämpfer abspenstig zu machen."

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