Der Söldnerchef im Fonds eines Autos
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Jewgeni Prigoschin bei der Rebellion am 24. Juni in Rostow am Don

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"Ich bin Psycho": Wie krank ist Söldnerchef Prigoschin?

Der rebellische Privatarmee-Betreiber soll einem exil-russischen Recherche-Projekt zufolge unter Darmkrebs leiden und sich selbst als psychisch labil bezeichnet haben. Der Aufstand sei impulsiv, aber geplant gewesen, hieß es, was Debatten auslöste.

"Das ist ein Mann, dem sie Magen und Darm aufgeschnitten haben", sagte ein Vertrauter von Jewgeni Prigoschin dem Portal "Projekt", das bekannt ist für ausführliche Recherchen über russische Oligarchen und Politiker. Die Krebserkrankung erkläre, warum der Söldnerchef geistig labil sei und sich selbst als "Psycho" einstufe. Unmittelbarer Anlass für den "Ausraster" von Prigoschin soll eine Anordnung des russischen Verteidigungsministeriums gewesen sein, wonach sich alle Private Military Companys (PMC) vertraglich der Regierung verpflichten sollten. Für die schweren gesundheitlichen Probleme Prigoschins spreche auch die "Hausarztpraxis", die er sich in seiner St. Petersburger Villa habe einrichten lassen, samt einem Beatmungsgerät, das sich viele reiche Russen leisteten, weil sie sich während der Corona-Pandemie nicht auf die staatliche Gesundheits-Infrastruktur verlassen wollten.

Blogger vermissten einen "Schädel"

"Projekt" will herausgefunden haben, dass Prigoschin "über den Berg" ist, was seine Tumorerkrankung angeht, er halte jedoch eine strikte Diät ein. Deshalb sei es wohl nur Kreml-Propaganda, dass in seiner Villa Drogen gefunden wurden. Prigoschin habe seinen Leuten sogar ausdrücklich verboten, in Afrika ins Drogengeschäft einzusteigen. Es ist in diesem Zusammenhang bezeichnend, dass sich Prigoschin seit der "Meuterei" nur ein einziges Mal auf seinem Telegram-Kanal gemeldet hat: Er leitete am 6. Juli einen Post weiter, wonach die Durchsuchungsbeamten nicht in seinem Haus verdächtige Substanzen gefunden hätten. Im Übrigen sei das obskure, im Fernsehen vorgeführte Material hinterher an den rechtmäßigen Besitzer zurückgegeben worden. Es scheint also, dass es Prigoschin besonders wichtig ist, mit Drogengeschichten nichts zu tun zu haben.

Schlagzeilen machte ein angeblich in Prigoschins Villa entdecktes Foto mit den abgeschlagenen Köpfen getöteter "Afrikaner". Das von der Kremlpropaganda verbreitete Bild sollte wohl ebenfalls den "Wahnsinn" des Oligarchen belegen, bewirkte jedoch eher das Gegenteil. So kommentierten Blogger ironisch, ihnen fehle der dazugehörige "Schädel", aus dem Prigoschin getrunken habe. Andere fanden es "interessant", etwas über die afrikanischen Orden von Prigoschin zu erfahren. "Wenn ich viel Geld hätte, hätte ich auch eine Sauna, ein Schwimmbad und eine Arztpraxis", schrieb einer der zahlreichen Kommentatoren.

"Der Kaffee war köstlich"

Russische Medien verweisen darauf, dass die Chefredakteurin des Senders RT, Margarita Simonjan, bereits unmittelbar nach dem Aufstand am 23./24. Juni vermutete, Prigoschin sei irgendwie traumatisiert: "Natürlich ist es kein Geheimnis, dass sich bei Menschen, die aus einem Kriegsgebiet zurückkehren, der Charakter und ihre psychische Verfassung verändern."

Zu den Absonderlichkeiten Prigoschins soll gehören, dass er aus einer jüdischen Familie stammt und dennoch den rechtsextremen Nazi-Bewunderer und "Wagner"-Gründer Dmitri Utkin als obersten Offizier beschäftigt. Dem ausführlichen Porträt zufolge zeichnet sich Prigoschin durch vielfältige Interessen aus, die sich nicht immer an Fakten hielten. So soll er mit seiner Söldner-Firma in der Zentralafrikanischen Republik ins Gold- und Diamantengeschäft eingestiegen sein, aber aus Lust und Laune einen Versuch gewagt haben, zusätzlich Kaffeeplantagen zu betreiben: "Da keine fähigen Manager eingestellt wurden, ging das Geschäft den Bach runter, aber der Kaffee war köstlich."

Arbeitsmethoden "Angst und Geld"

Zu den bemerkenswerten Details von Prigoschins Biografie gehört, dass der ehemalige Knast-Insasse (1981 wegen Straßenräuberei zu 13 Jahren verurteilt) und "Hot-Dog-Verkäufer" ab etwa 2010 beschlossen haben soll, seine Bildungsdefizite zu beheben. Vor allem der italienische Philosoph Antonio Gramsci (1891 - 1937) soll es ihm angetan haben, ein Marxist und Mitbegründer der Kommunistischen Partei seines Landes. Seitdem sei Prigoschin Fan des "Kriegskommunismus". Immer, wenn ihm ein unbekannter Name untergekommen sei, etwa der des Renaissance-Denkers Niccolò Machiavelli (1469 - 1527), habe Prigoschin sich sofort entsprechende Notizen gemacht, um nachzulesen, um wen es sich handle: "Er verwandelte sich vor unseren Augen von einem Kannibalen in einen intellektuellen Kannibalen". Bis dahin freilich habe der Oligarch ausschließlich mit zwei Arbeitsmethoden Erfolg gehabt: "Angst und Geld."

Eine Autobiografie liegt zwar noch nicht vor, allerdings schrieb Prigoschin ein Kinderbuch und produzierte neun Filme, die hauptsächlich die "Erfolge" seiner Söldnertruppe, aber auch seine Trollfabrik rühmen. Nach und nach habe der Oligarch gelernt, mit der Presse umzugehen: Wusste er vor einigen Jahren auf eine Journalistenfrage noch nicht mal, wie viel ihn eine Fertiggerichte-Fabrik gekostet hatte, nämlich umgerechnet rund 200 Millionen Euro, wurde er stetig professioneller. Letztlich soll seine "Leidenschaft für PR" mitverantwortlich dafür sein, dass sein Geltungsbedürfnis außer Kontrolle geriet - eine wesentliche Quelle für die Rebellion.

"Sagt nicht viel über seine Zukunft"

Im russischsprachigen Netz lösten die neuen Details über Prigoschins Leben und Treiben eine angeregte Debatte aus. Ein Spaßvogel meinte: "Alle Argumente und Vermutungen über die Ursachen und Folgen des persönlichen Treffens zwischen Putin und Prigoschin lassen sich mit dem Satz zusammenfassen, wonach Putins Doppelgänger auf Prigoschins Doppelgänger traf. Auf diese Weise ist keiner von beiden für irgendwelche getroffenen Vereinbarungen verantwortlich." Ein Teil von Prigoschins Firmenimperium sei noch intakt, war zu lesen, auch in der Trollfabrik sollen noch "etwa zehn Personen" beschäftigt sein.

Rechtsextremist und Prigoschin-Gegner Igor Strelkow vermutete, dass der Söldnerchef entgegen dem äußeren Anschein auf ganzer Linie gesiegt habe: "Die Machtverteilung innerhalb der herrschenden Mafia erfolgt derzeit genau so, wie von den Verschwörern geplant." So werde der Einfluss von Verteidigungsminister Schoigu und Geheimdienst-Oberaufseher Patruschew beschnitten. Der kremlnahe Politologe Sergej Markow verbreitet die Mär, dass sich Prigoschin beim Treffen mit Putin nicht im besten Licht präsentiert habe, weshalb die Staatsmedien weiter gegen ihn vorgingen: "Das sagt aber nicht viel über seine Zukunft aus. Prigoschin bekam die Möglichkeit, sich zu äußern, nutzte sie jedoch nicht."

"Unser Anführer vereint uns"

Dass Prigoschin die Rebellion spontan auslöste, wird durch das Interview mit einem "Wagner"-Söldner bei der britischen BBC bestätigt: "Niemand kapierte von uns irgendwas. Was unser Plan sein sollte, erfuhren wir aus Telegramm-Kanälen, genau wie Sie." Ein weiterer Kommandeur aus Prigoschins Truppe wies Berichte zurück, wonach einige Söldner bereit seien, mit dem Verteidigungsministerium zusammenzuarbeiten: "Uns verbindet nicht nur unser Arbeitsvertrag, sondern auch eine gemeinsame Idee: zu kämpfen, nicht als irgendeine Nummer zu dienen, sondern nützlich zu sein für das Vaterland. Viele halten uns für Söldner, aber das stimmt nicht. Wir sind patriotischer als andere. Wir kämpfen, ohne auf unser Leben Rücksicht zu nehmen. Und unser Anführer vereint uns auf die gleiche Weise, wie uns die gemeinsame Idee verbindet."

Unterdessen bestätigte der Chef des russischen Auslandsgeheimdiensts, Sergej Naryschkin, gegenüber der Nachrichtenagentur TASS, dass er unmittelbar nach der Rebellion von Prigoschin mit dem CIA-Direktor William Burns telefoniert habe. Der Putschversuch sei aber wohl nur ein "Vorwand" der Amerikaner gewesen, sich in Moskau zu melden: "Wir haben uns nicht auf ein Treffen geeinigt, aber eine solche Möglichkeit besteht: Sowohl Telefongespräche als auch die Möglichkeit eines persönlichen Treffens bleiben bestehen."

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