Der Politiker bei einem Treffen in Kasan am 11. Juli
Bildrechte: Wadim Sawitzky/Picture Alliance

Ärger mit Generälen: Verteidigungsminister Sergej Schoigu

Artikel mit Audio-InhaltenAudiobeitrag

"Gespenst neuer Meuterei": Russischer General beschimpft Kreml

Mit wüsten Worten kommentierte General Iwan Popow seinen Rauswurf: Die politische Führung habe die Truppe "rücklings" erdolcht und auf "verräterische und schändliche Weise" im Stich gelassen. Schon wird eine neue Rebellion gewittert.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Es brodelt offenbar mächtig in Putins Truppe. Soeben wurde General Iwan Popow entlassen, der als Chef der 58. Armee für einen der schwierigsten Frontabschnitte im Süden der Ukraine zuständig war. "Um ehrlich zu sein, entstand eine schwierige Situation gegenüber den obersten Behörden, die entweder schweigen oder gezwungen wurden, feige nachzuplappern, was sie da oben hören wollen, statt alles beim Namen zu nennen", so der General in einer Audio-Botschaft, die von einem befreundeten Parlamentsabgeordneten über dessen Telegram-Kanal verbreitet wurde, angeblich gegen den Willen des Generals.

Er habe angesichts der vielen Gefallenen "kein Recht zu lügen", erklärte Popow: "Ich habe auf die wichtigste Tragödie in der modernen Kriegsführung aufmerksam gemacht – das Fehlen von Gegenbatteriekämpfen, das Fehlen von Artillerie-Aufklärungseinheiten und massenhafte Todesfälle und Verletzungen unserer Brüder durch die feindliche Artillerie", rechtfertigte sich der geschasste Militär.

"Oberbefehlshaber erschlug uns von hinten"

Die Armeeführung halte ihn offenbar für eine "Gefahr" und habe innerhalb eines Tages entschieden, seinen Abschied zu erzwingen, so Popow, der sich in eine neue Variante der "Dolchstoßlegende" hineinsteigerte: "Wie viele Kommandeure von Divisionsabteilungen heute sagten, konnten die Soldaten der Streitkräfte der Ukraine unsere Armee nicht von vorne erledigen, unser Oberbefehlshaber erschlug uns von hinten und enthauptete die Armee im schwierigsten und angespanntesten Moment auf verräterische und schändliche Weise."

Wie russische Militärblogger erfahren haben wollten, soll Popow bei Generalstabschef Waleri Gerassimow vorstellig geworden sein, um eine stärkere "Rotation" der Frontsoldaten in den am schwersten umkämpften Abschnitten durchzusetzen, was mit der Begründung abgelehnt worden sei, das sei alles nur "Alarmismus und Desinformation". Gerassimow soll sogar von "Erpressung" gesprochen haben, weil der aufgebrachte General wohl damit drohte, seine Sicht der Dinge direkt an Putin weiterzugeben.

"Kämpfer leiden unter großer Müdigkeit"

Bezeichnenderweise waren die Hintergrundinformationen in einem Telegram-Portal zu lesen, das enge Verbindungen zum rebellischen Söldnerführer Jewgeni Prigoschin hat: "Über die Tätigkeit von Generalmajor Iwan Popow lässt sich sagen, dass er bei seinen Untergebenen großes Ansehen genoss, es zumindest keine negativen Kritiken über ihn gab und seine Hinweise auf Probleme bei der fehlenden Rotation an der Front tatsächlich zutreffen. Die Kämpfer der meisten Einheiten leiden wirklich unter großer Müdigkeit, was sich auf ihre moralische und körperliche Verfassung auswirkt, und eine Reihe militärischer Formationen sind unterbesetzt, was auf dem Papier eine Sache, in der Realität aber eine andere ist."

"Armee braucht Ordnung"

Jetzt ist die Aufregung im Netz groß, die Blogger sparen nicht mit furchteinflößenden Formulierungen. Der rechtsextreme Blogger Igor Strelkow sprach von einem "äußerst gefährlichen Präzedenzfall", der "fast ein Aufstand" sei. Noch schlimmer sei eigentlich nur der "unkontrollierte Zerfall der Armee": "Nur eine weitere große militärische Niederlage trennt uns vor einem neuen 'Marsch auf Moskau', der dann von der regulären Armee durchgeführt wird."

Der kremlnahe Politologe Sergej Markow fragt sich bereits, ob eine neue Meuterei drohe: "Das ist natürlich keine Rebellion gegen Putin, sondern ein Aufruf an Putin, einzugreifen. Solche öffentlichen Auseinandersetzungen in der obersten militärischen Führung der russischen Armee sind sicherlich kein Zeichen von Stärke. Wir müssen Ordnung schaffen. Wir müssen dringend Ordnung schaffen. Und an der Saporoschje-Front läuft den ganzen Monat über die wichtigste Offensive der Streitkräfte der Ukraine. Die Armee braucht Ordnung."

Popows "Aufschrei" sei nicht die Meinungsäußerung eines Militärs, mutmaßte Markow, sondern eines "unabhängigen Politikers": "Die Führung wird es nicht zulassen, dass sich eine solche politische Situation entwickelt." Kritik müsse "intern und faktenorientiert" sein, so der Putin-Fan: "Der geringste Geist politischer Demagogie zerstört die Glaubwürdigkeit der Kritik und ihres Inhalts und lässt die Führung darin politische Intrigen erkennen und nicht die 'nackte Wahrheit'." Allerdings ist sich Markow wohl darüber im Klaren, dass eine neue "Informationsbombe" gezündet wurde: "Ich werde die Führung der Armee nicht loben, denn es gibt zu viele Probleme. Aber ich werde mich nicht an der Verfolgung der Führung der russischen Armee beteiligen. Und ich empfehle es niemand anderem. Das ist unsere Armee und ihre Mängel sind auch unsere Mängel."

"Truppe zutiefst demoralisiert"

Im Portal "Rybar" mit 1,2 Millionen Followern heißt es dramatisch: "Popow genießt enorme Unterstützung in der Truppe: Die Kämpfer an der Front waren durch die Nachricht über die Entfernung des 'einfachen' und 'verständlichen', ehrlichen Generals Popow zutiefst demoralisiert. Ja, er hatte vielleicht seine Fehler. Aber angesichts von Kommandeuren, die Dutzende von Soldaten für einen weiteren 'Helden-Stern' oder den Ruhm des Befreiers einer Siedlung in den Tod schickten, stach Popow eindeutig zum Besseren hervor."

Rybar hofft darauf, dass das Verteidigungsministerium doch noch einlenkt und die Kritik des Generals ernst nimmt: "Der Konflikt zwischen Popow und Gerassimow macht das Wesentliche deutlich: den Mangel an Einheit in den Streitkräften der Russischen Föderation. Und der Feind wird das sicherlich ausnutzen. Sowohl in Kampagnen zur Diskreditierung der Streitkräfte der Russischen Föderation und deren Verleumdung als auch in dafür maßgeschneiderten Veröffentlichungen. Und natürlich wird Russland darunter leiden. Und das ist das Traurigste."

"In der Armee gibt es keine Demokratie"

Einer der prominentesten russischen Kriegsberichterstatter, Alexander Kots, forderte ein "Belohnungssystem" für militärische Berichte, die der Realität entsprächen und Strafen für gegenteiliges Verhalten. Das richtet sich gegen die allgemein bekannte Praxis von russischen Vorgesetzten, der obersten Führung ausschließlich geschönte Unterlagen zukommen zu lassen und ist insofern eine Solidaritätsadresse an Popow. Die "gesamte Front" sei für Popow, war bei einem anderen Blogger zu lesen: "Normale Generäle, die in den Augen der Kämpfer nicht nur klug, sondern auch von maßgeblicher Bedeutung sind, kann man an einer Hand abzählen. Warum stellen die Vorgesetzten von General Popow persönliche Feindseligkeiten über die Interessen des Staates und über unseren Sieg?"

"Objektiv gesehen kommt die Absetzung von Popow, einem erfahrenen und in der Armee beliebten Kommandeur, den Streitkräften der Ukraine und ganz allgemein der 'schwarzen PR' des Kiewer Regimes zugute", bedauert ein weiterer populärer Blogger mit 260.000 Fans: "Für die Personalveränderung wurde, aus welchen Gründen auch immer, ein äußerst unglücklicher Zeitpunkt gewählt. Die russischen Truppen an der Front haben sich moralisch noch nicht von der Information erholt, dass die Behörden die einst gefangenen Anführer der Terroristen in der Ukraine die Rückkehr in die Heimat erlaubt haben, ohne das weiter zu erläutern, ebenso wie jetzt die ebenso ungerechtfertigte Entlassung Popows."

TV-Reporter Poddubny versuchte den Kreml dagegen mit dem Hinweis zu verteidigen, "Gott sei Dank" würden Generäle nicht gewählt wie Politiker. Im Übrigen kehrten "talentierte" Kräfte nach einer Suspendierung häufig wieder in den aktiven Dienst zurück: "In der Armee gibt es keine Demokratie. Und Versuche, bei der Ernennung von Brigade-, Divisions-, Armee- und Bezirkskommandeuren öffentlichen Druck zu organisieren, sind eine schädliche Praxis. Unabhängig von den beteiligten Persönlichkeiten. Und ja. Vielen 'Hitzköpfen' wird meine Meinung nicht gefallen, aber so ist es."

"Gegenbatterie-Radare deutlich effektiver"

Das US-Magazin Forbes behauptete in einer Analyse, die Ukraine sei tatsächlich dabei, den Artilleriekampf zu gewinnen: Für jedes zerstörte Geschütz verlören die Russen vier. Die Radaranlagen und Drohnen der Russen seien deutlich weniger effektiv: "Am wichtigsten ist vielleicht, dass die Ukrainer aus Deutschland, Norwegen, dem Vereinigten Königreich und den Vereinigten Staaten zahlreiche Gegenbatterieradare erhalten haben, die ankommende Artilleriegranaten und Raketen erkennen, den Ursprungsort lokalisieren und die eigenen Haubitzen und Werfer zum Gegenfeuer veranlassen."

Für russische Verhältnisse ist die jetzige Debatte in ihrer Schärfe und Öffentlichkeit unerhört. Dass abermals von "Meuterei" gesprochen wird, wenn auch mit Fragezeichen, spricht Bände.

"Hier ist Bayern": Der BR24 Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht’s zur Anmeldung!