Der russische Generalstabschef und der Verteidigungsminister in Ausgehuniform
Bildrechte: Sergej Karpukhin/Picture Alliance

Schwer unter Druck: Waleri Gerassimow (links) und Minister Sergej Schoigu

Artikel mit Audio-InhaltenAudiobeitrag

Aufruhr um General: "In Russland nennt man das Revolution"

Seit der populäre Kommandeur der 58. russischen Armee, Iwan Popow, in einer publik gewordenen Audiobotschaft ordentlich "Dampf abließ", sind Politiker wie Blogger alarmiert. Offen wird über das Ende von Putins autoritärem Führungsstil debattiert.

Für den Generalsekretär von Putins Partei "Einiges Russland", Andrej Turtschak, ist alles nur eine "politische Show". Die russische Armee war und sei natürlich "unpolitisch", so der Kreml-Gefolgsmann. Doch mit dieser Meinung steht er mehr oder weniger allein da: Seit der entlassene General Iwan Popow, Kampfname "Spartakus", in einer Audiobotschaft zu einem spektakulären Rundumschlag gegen die Armeespitze ansetzte und der Führung einen "verräterischen und schändlichen" Dolchstoß in den Rücken der Frontsoldaten vorwarf, vibriert das russischsprachige Netz, während die staatlich gesteuerten Medien zunächst mit "donnerndem" Schweigen reagierten.

Popow hatte ordentlich "Dampf abgelassen" und vor allem bemängelt, dass die russische Artillerie der ukrainischen nicht mehr gewachsen sei und eine stärkere "Rotation" an der Front angemahnt, was ihm von Generalstabschef Gerassimow verwehrt worden sein soll. Popow soll sogar von seinen Vorgesetzten beschuldigt worden sein, "Alarmismus und Desinformation" zu verbreiten. Per Präsidialdekret wurde der General gefeuert.

"Zuhören ist wichtigste Fähigkeit von Chefs"

Die eigentlich interne abendliche Audionachricht, die schon in der Nacht von 2,2 Millionen Nutzern abgerufen wurde, war nach Turtschaks Angaben gegen den Willen von Popow ins Netz gestellt worden, und zwar von Andrej Gurulew, einem pensionierten General, der jetzt im Parlament sitzt. Der müsse das mit seinem eigenen Gewissen ausmachen, so Turtschak, Popow dagegen müsse sich nichts vorwerfen lassen. Wie auch immer: Der Kreml geriet durch die Äußerungen des Generals unter massiven Druck, zumal Popow mehr oder weniger dieselben Kritikpunkte anbrachte, die zuvor auch schon Söldnerführer Jewgeni Prigoschin als Grund für seine Rebellion genannt hatte. Nicht von ungefähr wird daher über eine Ausweitung der "Meuterei" debattiert.

Der Vorsitzende im Verteidigungsausschuss des russischen Parlaments, Andrej Kartapolow, sah sich zu einer schnellen Reaktion veranlasst: "Die wichtigste Fähigkeit eines jeden Chefs besteht darin, Probleme zu erkennen und seinen Untergebenen zuzuhören. Daher denke ich, dass diejenigen, die das tun sollen, es gehört und gesehen haben und handeln werden." Der pensionierte General und "Held Russlands" Sergej Lipowoi bezeichnete Popows Generalabrechnung als "starke und mutige Aussage".

Ein Beobachter war der Ansicht, der General habe sich eigentlich nur an die Elite wenden wollen, was aber unrealistisch sei: "Der Appell von General Popow scheint wirklich ein Denkanstoß für einen relativ engen Kreis von Insidern zu sein und nicht für die breite Öffentlichkeit bestimmt. Aber es ist höchste Zeit, es als quasi medizinische Tatsache zu akzeptieren: In der heutigen Welt sind 'Insiderinformationen' ein Mythos. Wenn es eine Text-, Audio- oder Videodatei gibt, wird diese auf jeden Fall öffentlich."

"Brücken sind nicht abgebrochen"

Womöglich bereite sich Popow bereits auf eine politische Karriere vor, wie sie auch Jewgeni Prigoschin unterstellt wird, wurde spekuliert. Der General könne sich als populäres, unverbrauchtes "frisches Blut" einführen, schrieb ein Blogger: "Die historische Erfahrung zeigt allerdings, dass das Schicksal seiner Vorgänger wenig beneidenswert ist. So sind die Bedingungen der nationalen Politik." Das ist ein Hinweis darauf, dass die 58. Armee, die Popow bisher leitete, als "politischste" Truppe der Streitkräfte gilt, wie es der kremlnahe Politologe Sergej Markow ausdrückte. Damit ist gemeint, dass mehrere frühere hochrangige Militärs der Einheit inzwischen Politik machen, darunter auch der oben erwähnte Vorsitzende des Verteidigungsausschusses.

Propagandisten wie Markow beeilten sich, den Aufruhr um Popow als nützlich für den Kreml darzustellen, denn die angesprochenen Probleme seien "wirklich sehr wichtig". Ähnlich drückte es der kremltreue Blogger Alexander Sladkow aus: "Iwan Popow ist kein Rebell, er hat keine Ultimaten gestellt, die Brücken sind nicht abgebrochen." Russland habe "große Prüfungen zu bestehen" und müsse sich gleichermaßen um die Befindlichkeit seiner Soldaten, als auch um die der Generäle kümmern. Diese hilflosen Floskeln konnten jedoch die erregte Debatte um Popow nicht bremsen. Dass die staatlich gelenkten Medien derart zurückhaltend sind, beweist, wie heikel das Thema für sie ist.

"Die meisten Generäle sind loyal"

Unter den Militärbloggern, vor allem denen, die auch mit Prigoschins Rebellion sympathisierten, ist Popows lautstarker Abgang das Top-Thema: "Für unseren Sieg ist eine entscheidende Reform der Armee erforderlich. Wir sprechen nicht nur über den Rücktritt von [Generalstabschef] Gerassimow und [Verteidigungsminister] Schoigu, sondern auch über die Bestrafung der Verantwortlichen für die unterbliebene Versorgung der Armee und unvorbereitete 'Kanonenfutter'-Angriffe. Talentierte Generäle haben oft einen scharfkantigen Charakter und sind für Vorgesetzte unbequem, sollten aber das Kommando über die Kampfhandlungen haben."

Im Generalstab selbst gebe es für aufsässige Offiziere wenig Verständnis, analysierte das Portal "Russland kurzgefasst" (470.000 Fans): "Die meisten Generäle und Armeeführer sind Schoigu und Gerassimow gegenüber loyal. Daran besteht kein Zweifel. Sie versuchen, die radikalsten Gegner auszuschalten." Dazu werde neben Popow auch General Surowikin gezählt, ein enger Vertrauter von Jewgeni Prigoschin. Wo sich Surowikin derzeit aufhält, ist nicht bekannt. Von einer Haft über einen Hausarrest bis zur "Quarantäne" oder gar einem "Erholungsurlaub" sind alle Varianten in Umlauf.

"Zerfall der Armee Frage der Zeit"

Blogger Sergej Mardan, der 225.000 Fans hat, schrieb: "Wer denkt, dass allein Prigoschin das Problem war, der irrt gewaltig. Jetzt spricht ein kämpfender russischer General von Verrat. Kein Kommandeur eines privaten Militärunternehmens, kein Politiker. Ein General der russischen Streitkräfte. Aber er spricht mit den gleichen Worten, die wir vom 'Wagner'-Regisseur gehört haben." Popow wird von seinen zahlreichen Fans für seine Nahbarkeit und seinen Realismus gerühmt.

Politologe Anatoli Nesmijan urteilte dramatisch: "Die Kaderarmee bricht bereits zusammen. Das ist noch keine Rebellion wie Prigoschins Aufstand, aber Aufrufe, die zeigen, dass die Grenze dahin nicht mehr weit entfernt ist. Wenn es dazu kommt, sind Unruhen vorprogrammiert – zunächst spontane, die mit aller möglichen Grausamkeit niedergeschlagen werden. Die Gründe können jedoch immer noch nicht beseitigt werden, so dass der Zerfall der Armee unter solchen Bedingungen eine Frage der Zeit ist."

"In Russland nennt man das eine Revolution"

Ähnlich apokalyptisch urteilte ein weiterer Beobachter mit 42.000 Fans: Das Putin-Regime berufe sich quasi auf eine Art "Gottesgnadentum" im mittelalterlichen Sinne: "Das bedeutet, dass in einem kritischen Moment, wenn die Macht ihre Hauptfunktion nicht mehr erfüllt, ihr der 'höchste Schutz' entzogen wird und ihn ihre früheren treuen Untertanen mit Gewalt entfernen. In Russland nennt man das eine Revolution, vor der jeder höllische Angst hat." Nur eine "Revolution von oben" könne das noch verhindern: "Das Problem ist, dass die Gesellschaft und das Land dafür intellektuell nicht bereit sind. Das Bewusstsein darüber, was geschieht, kommt katastrophal spät."

Es gehe um nichts weniger als den "Zusammenbruch der Ein-Mann-Führung". Der Krieg habe deren "Ineffizienz" offengelegt. Nötig sei jetzt eine Rückkehr zur "Kollegialität", und zwar mit allen "tektonischen Folgen" einer solchen Entscheidung. "Es ist Zeit für den Präsidenten, seine Karten auf den Tisch zu legen. Er kann Prozesse bremsen, aber nicht mehr aufhalten, nicht einfrieren. Es geht darum, die Berufung zur Macht, den 'himmlischen Auftrag' nicht völlig zu verlieren."

Untergangsstimmung auch bei einem Blogger von der Krim: "In der Führung der Armee finden einige unvorstellbare Prozesse statt, die nur schwer mit Vernunft zu vereinbaren sind. Die jüngsten Entscheidungen des Generalstabs schwächen die Moral und Kampfkraft der Armee erheblich, genau der Armee, die Saporoschje unter den Bedingungen des Mangels an allem auf der Welt verteidigt. In dieser Situation muss der Präsident eingreifen. Niemand hält sonst noch am Glauben fest."

"Beide Wege bergen ihre Risiken"

Ein ähnlich bekannter Blogger war nicht weniger pessimistisch: "Was auch immer Popow motivierte, eines ist klar: Die Ursache für den großen Widerhall waren Probleme in den russischen Streitkräften, die in keiner Weise gelöst wurden und ein kritisches Niveau erreichten." Der Druck werde monatlich zunehmen: "Die Hauptfrage ist, wer alles Putin nicht mehr liebt: Diejenigen, die das Boot zum Schwanken bringen oder diejenigen, die ihm ins Gesicht und in ihren Berichten lügen. Abhängig von der Antwort werden wir entweder personelle Veränderungen und eine Veränderung der gesamten Struktur der Armee erleben oder die Fortsetzung des Verfalls des alten Systems von innen heraus. Beide Wege bergen ihre Risiken."

"Zirkus zog weiter, Clowns sind geblieben"

In einem Blog, dem eine gewisse Nähe zu den Geheimdienste nachgesagt wird, war zu lesen, dass Putin mit seinem engsten Führungskreis eineinhalb Stunden über den weiteren Umgang mit renitenten Generälen diskutiert habe. Es habe allerdings kein einheitliches Meinungsbild gegeben, Putin selbst habe sich weitere Bedenkzeit erbeten. Das führe zu jeder Menge "Missverständnissen und Unzufriedenheit" in der Top-Elite.

Unter den hunderten von Leserkommentaren dominierten Entsetzen und Sarkasmus. Die Welt sei nur noch in der "Kreml-Kantine" in Ordnung, hieß es, oder auch: "Der Zirkus zog weiter, die Clowns sind geblieben." Und immer wieder bilanzierten besorgte Bürger: "Wir müssen diese 'Sonderoperation' beenden. Und zwar je früher, desto besser."

"Hier ist Bayern": Der BR24 Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht’s zur Anmeldung!