Autostau vor der Auffahrt zur zerstörten Brücke
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Nichts geht mehr an der Krim-Brücke

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Russland und die Krimbrücke: "Psychologischer Zusammenbruch"

Der mutmaßliche zweite Anschlag auf die wichtigste Verkehrsverbindung zur Krim schockiert Propagandisten und Politiker gleichermaßen: "Die Ereignisse laufen eindeutig auf eine Niederlage zu", klagen Blogger. Entsetzen und Hilflosigkeit sind groß.

Noch ist nicht eindeutig geklärt, wer hinter dem abermaligen Anschlag auf die Krim-Brücke steckt. Fest steht nur: Die Schäden sind so schwerwiegend, dass der Autoverkehr auf unbestimmte Zeit unterbrochen ist. Die russische Armee, und nicht nur die, hat damit erhebliche logistische Probleme. "Die politischen Konsequenzen sind unausweichlich. Die Dauer des Krieges hat eine kritische Grenze überschritten. Für mich ist klar: Es wird einen psychologischen Zusammenbruch der Gesellschaft geben", schlägt der russische Blogger Maxim Kalaschnikow (31.000 Fans) Alarm: "Die Ereignisse laufen eindeutig auf eine militärische Niederlage zu, möglicherweise auch auf eine offene Gegnerschaft an der Spitze der Russischen Föderation." Ein Teil der Elite werde nach einer Möglichkeit suchen, den Präsidenten "loszuwerden", so viel sei klar, behauptete der Blogger, dessen Meinung vielfach im Netz verbreitet wurde.

Letztlich sei es der Ukraine erfolgreich gelungen, der Weltöffentlichkeit Putins "militärische Ohnmacht" vor Augen zu führen, um dessen "Autorität zu schwächen". In der Folge könne die Lage in Russland wie 1917 außer Kontrolle geraten: "Der Feind hat also vorerst Erfolg."

"Jeder rettet nur noch sich selbst"

Mit diesem Pessimismus steht Kalaschnikow keineswegs allein da. Von einer "traumatischen Wirkung" auf die russische Bevölkerung sprach auch Militäranalytiker Igor Korotschenko. Philosoph Dmitri Michailitschenko hat gleichfalls den Eindruck, dass die legendäre Duldungsfähigkeit des russischen Volkes mittlerweile an ihr Ende gekommen ist oder jedenfalls von der Regierung nicht mehr über Gebühr strapaziert wird: "Die Behörden appellieren heute nicht mehr oft an die Geduld des russischen Volkes, sondern tun lieber so, als sei alles normal und ruhig. Es ist nicht verwunderlich, dass eine müde Gesellschaft auf diese Vorspiegelung von Stabilität reagiert und selbst so tut, als ob alles wirklich ruhig ist. Mittlerweile führt ein sehr hohes Maß an häuslicher Aggression zu einem ausgeprägten Individualismus der atomisierten Gesellschaft, in der die Bereitschaft zunimmt, nur noch sich selbst und die eigene Familie zu retten."

"Eine Absurdität mehr ist auch schon egal"

Die russischen Behörden hatten Mega-Staus hingenommen, um alle Fahrzeuge vor der Krimbrücke gründlich zu durchsuchen, doch auch diese Vorsichtsmaßnahme hat augenscheinlich nichts gebracht. Diesmal sollen Jetskis oder Überwasser-Drohnen eingesetzt worden sein. Wie auch immer: Die Unfähigkeit des Kremls, Russlands derzeit symbolträchtigste Verkehrsachse zu schützen, stürzt das Land in massive Selbstzweifel.

Politologe Anatoli Nesmijan zeigte sich verwundert, dass der Kreml von einem "Terroranschlag" spricht, wo es doch mutmaßlich der Angriff eines "legitimen militärischen Gegners" sei: "Allerdings herrscht im Kreml selbst schon länger Verwirrung darüber, was geschieht und wie man es nennen soll, weshalb bei der Bestandsaufnahme des zunächst eher dubiosen Ereignisses so seltsame sprachliche Ungetüme entstehen. Andererseits: eine Absurdität mehr oder weniger, das ist in der aktuellen Situation auch schon egal."

"Sie können es nicht"

Nesmijans Kollege Sergej Starowoitow verweist darauf, dass es vom ersten Tag an in diesem Krieg auch um Symbole gegangen sei, wie schon die angeblichen Kriegsziele Putins bewiesen hätten, der von einer "Entnazifizierung" und "Entmilitarisierung" der Ukraine gesprochen hatte. Insofern habe sich Kiew als erfolgreicher beim Umgang mit Sinnbildern erwiesen: "Die Brücke ist nicht nur eine Straßenverbindung über dem Wasser, sondern auch ein Denkmal für die Annexion der Krim. Sie ist eine Stein gewordene Verbindung zwischen Russland und den [eroberten] neuen Regionen. Nach jedem Angriff der Streitkräfte der Ukraine auf unsere Symbole wartet die russische Gesellschaft auf eine ebenso emotionale Reaktion, nämlich die Zerstörung von etwas Ikonischem ihrerseits."

Das russische Verteidigungsministerium verstehe sich allerdings nicht auf diese Art von "Psychotherapie", denn dabei gehe es weniger um militärische Erfolge als um russische Innenpolitik. Ähnlich bitter sieht es ein weiterer Blogger: "Über die Krimbrücke lässt sich nur eines sagen : Selbst unser wertvollstes und symbolischstes Objekt können die Behörden nicht schützen. Nach dem vorherigen Angriff, bei dem alle Schwachstellen aufgedeckt wurden, nach gründlichen Kontrollen von Fahrzeugen, die kilometerlange Staus verursachten, nach [Ex-Präsident Dmitri] Medwedews Drohungen mit dem Tag des Jüngsten Gerichts, nach der Verstärkung der Luftverteidigung im Brückenbereich, nach fast anderthalb Jahren des Krieges - sie können es nicht. Und kein Treffen des Sicherheitsrates mit den Kreml-Ältesten wird dieses Problem lösen."

"Entscheiden, wer seinen Kopf einzieht"

Immerhin sei es ein "Trost" für alle Patrioten, dass ansonsten alles "planmäßig" verlaufe, so das sarkastische Fazit. Was Medwedew angehe, so sei er mit seinen extremen Wutanfällen längst eine Art "Hohepriester" der Propaganda, wurde gemutmaßt. Er halte ein "unsichtbares Gleichgewicht" zwischen der für Russland immer negativeren Entwicklung und seinen grotesken Drohungen: "Sobald der Feind die nächste Grenze des im realen Raum Zulässigen überschreitet, verschiebt der stellvertretende Vorsitzende des Sicherheitsrats diese rhetorisch – in den Raum des symbolischen Kampfes unserer 'Guten' mit ihren 'Bösen'."

Die Ukraine hoffe darauf, dass möglichst viele Russen darüber klagten, der Kreml sei machtlos, fürchtete Blogger Igor Gomolsky. Instinktiv würden künftig alle Reisenden die Krimbrücke nur noch in geduckter Haltung passieren: "Tatsächlich sind wir an einen Punkt gelangt, wo wir entscheiden müssen, wer seinen Kopf einzieht: Wir oder die Terroristen."

"Was hat Putin damit zu tun?"

Dass Dauerkritiker Putins wie Rechtsaußen Igor Strelkow von "erstaunlichen Idioten im Kreml" sprechen, gehört schon zur üblichen Folklore. Offenbar sei es den Behörden nicht darum gegangen, die Brücke zu schützen, sondern mehr darum, "hektische Aktivität" vorzutäuschen. Kollege und Parlamentsabgeordneter Viktor Alksnis, Spitzname "Schwarzer Oberst", schildert die Lage von Putins Truppe in düstersten Farben. Die Marinefliegerei sei "mehr tot als lebendig", Russland in keiner Weise fähig, Überwasser-Drohnen zu bekämpfen: "Ich bin sicher, dass es unter meinen Lesern jetzt viele geben wird, die sich die Frage stellen werden: 'Was hat Putin damit zu tun?' Ich hoffe, dass die meisten Leute diese Frage nicht stellen."

"Deshalb wird Russland den Krieg verlieren"

Kremlsprecher Dmitri Peskow verkündete unmittelbar nach dem Anschlag auf die Krimbrücke, Russland werde das abgelaufene "Getreideabkommen" mit der Ukraine aussetzen, das Frachtschiffen die freie Durchfahrt übers Schwarze Meer garantierte, um eine internationale Lebensmittelkrise zu verhindern. Doch auch das sei wenig überzeugend, argumentierte sogar der kremlnahe Politologe Sergej Markow: "Washington und die EU sind überhaupt nicht gegen den Rückzug Russlands aus dem Getreideabkommen. Sie wollen nun, dass Russland von sich aus den Getreidedeal beendet, dann aber Schwäche und Ohnmacht zeigt, wenn es darum geht, den Export von ukrainischem Getreide zu unterbinden. Damit dann jeder sehen kann, dass Russland weder über militärische Stärke noch über die nötige Willenskraft verfügt. Deshalb wird Russland den Krieg verlieren."

In russischen Leserbrief-Kommentaren heißt es kopfschüttelnd, auf der Krim Urlaub zu machen sei "Wahnsinn", es sei unverständlich, warum die Behörden immer noch dazu rieten: "Das einzig Gute daran ist, dass es jetzt physisch unmöglich ist, dort hinzugelangen." Andere wollten "nicht mal gratis" auf die Krim fahren. Natürlich war wieder viel Hohn und Spott zu lesen, so wurden die angeblichen "Kampf-Delphine" geschmäht, die im Schwarzen Meer für Sicherheit sorgen sollen, und die fehlende Luftverteidigung kritisiert, die wohl nur der geschasste und an einem unbekannten Ort festgehaltene General Surowikin wieder auf Vordermann bringen könne.

"Leben mit der Ausgangssperre üben"

In eine Satire, bei der auch Präsident Putin nicht ungeschoren davon kam, flüchtete sich Blogger Wadim Schumilin: "Touristen, die sich entscheiden, auf die Krim zu reisen oder sie über die 'neuen Gebiete' zu verlassen, können nicht nur das Leben mit der Ausgangssperre üben, sondern auch die Ruinen von Mariupol bewundern. Was die Sache natürlich unvergesslich macht, aber es kann die Weltanschauung auf unvorhersehbare Weise verändern. Interessanterweise war es Putin persönlich, der vor ein paar Wochen aktiv die Nutzung des [frontnahen] Landkorridors forderte und darüber überhaupt nicht besorgt war. Möglich, dass der nächtliche Blitzbesuch des Präsidenten in Mariupol nicht ganz zutreffende Eindrücke hinterlassen hat."

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