Fotografie von Viktor Kochetov/MOKSOP
Bildrechte: Viktor Kochetov/MOKSOP

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Vergessene Bewegung: Charkiwer Fotokünstler in Nürnberg

Das Museum war fast fertig, als Russland seinen Krieg gegen die Ukraine begann – und auch Werke der "Kharkiv School of Photography" gerettet werden mussten. Was deren Ästhetik schon zu Sowjetzeiten so besonders machte, wird nun in Nürnberg erklärt.

Über dieses Thema berichtet: kulturWelt am .

In Charkiw, im Osten der Ukraine, sollte ein Museum eröffnet werden, das sich der Fotokunst widmet, genauer gesagt: der "Kharkiv School of Photography". Das Gebäude war fast fertig und Beleuchtungssysteme aus Deutschland waren installiert, als Russland begann, die gesamte Ukraine mit Krieg zu überziehen.

Erst ging es darum, Menschen in Sicherheit zu bringen – dann aber auch darum, Kunstwerke vor Zerstörung und Raub zu schützen. Die Sammlung von über 2.000 Kilo Fotos, Negativen und Dokumenten der Fotokunstbewegung aus Charkiw lagern inzwischen im Kunstmuseums in Wolfsburg. Was diese Schule der Fotografie aber war und ist, wie ihre Grundsätze und ästhetischen Charakteristika aussehen, kann man derzeit in einer Ausstellung in Nürnberg erfahren.

Erinnerungen an die Zeit des Holodomor

Fast am Ende der Ausstellung, im ersten Stockwerk der ehemaligen Sparkassenfiliale, wartet ein abgedunkelter Raum. Darin: Porträts in schwarz-weiß, Gesichter in Originalgröße. Es sind Bilder von Ukrainerinnen und Ukrainern aus den 1930er Jahren. Aus der Zeit des Holodomor, was Mord durch Hunger bedeutet, einer staatlich forcierten, furchtbaren Hungersnot unter Josef Stalin. Millionen Menschen kamen in der Ukraine damals ums Leben.

Stalin wollte mit Zwangskollektivierung der Landwirtschaft, dem Ausplündern der Dörfer und dem damit ausgelösten Elend den ukrainischen Freiheitswillen brechen. Der Fotograf Roman Pyatkovka aus Charkiw, der inzwischen in Nürnberg lebt, hat diese Portraits geschaffen – und die Serie "Phantome" genannt. Die ursprünglichen Fotos stammen aus privaten Alben, einige aus Archiven. Aber es sind keine Foto-Dokumentationen. Pyatkovka hat die Fotos bearbeitet, manche mehrmals belichtet – als künstlerischen Gestus. Einige wurden von ihm extra zerkratzt oder etwas dazu retuschiert.

Durch die Bearbeitung scheinen die Männer und Frauen aus den Bildern heraus zu starren. Manche bemitleidenswert, manche bösartig, wie Geister oder eben: Phantome. Mit der Serie ist Roman Pyatkovka 1990 bekannt geworden. Er gehört zur zweiten Generation der "Kharkiv School of Photography". Einer Strömung, die in den 1970er Jahren im ostukrainischen Charkiw zu einer Bewegung wurde und die es bis heute gibt.

Keine feste Institution

Olga Komarova, Nürnbergerin aus der Ukraine, leitet Führungen durch die Ausstellung und erklärt dazu, "Charkiwer Schule der Fotografie", klänge wie eine Institution. Es war aber keine. Es war eine Bewegung – weil es eine andere Fotografie war, die in der Sowjetunion nicht so gern gesehen wurde.

Entstanden ist diese Bewegung aus Amateur-Fotoclubs, in denen sich Männer trafen, von denen die meisten in technischen Berufen arbeiteten, etwa als Ingenieure wie der bekannteste von ihnen, Boris Mikhailov. Er gehört der ersten Generation der Charkiwer Schule der Fotografie an. 2011 hatte Mikhailov im Museum of Modern Art in New York eine Einzel-Ausstellung, inzwischen lebt der Über-80-Jährige in Berlin. "Aber er wurde nicht mit der Charkiwer Schule der Fotografie und gar nicht mit der Ukraine in Verbindung gebracht. Sondern es hieß immer: Die andere sowjetische Fotografie – aber es ist keine sowjetische Fotografie", sagt Komarova.

Eine andere sowjetische Realität

Die Fotokunst sollte einen auf den ersten Blick treffen, wegblasen – wie die erste Generation der Bewegung in einem Manifest deklarierte. Die Werke der Charkiwer Schule zeigen eine andere sowjetische Wirklichkeit als die idealisierten Menschenbilder des sozialistischen Realismus. Graue, sowjetische Bauten bekommen auf den Fotos durch Nachkolorierung einen pinken Anstrich; eine Bäuerin mit Mistgabel leuchtet in fröhlichem Gelb und Orange.

Auch wenn sich die Fotokünstler auf den sozialistischen Realismus bezogen, grenzten sie sich dennoch davon ab. Denn, so erklärte Olga Komarova, es sei auch keine anti-sowjetische Fotografie: "All diese Künstler waren eigentlich keine politischen Dissidenten, die wollten sich nur künstlerisch frei entfalten. Natürlich wurde das ihnen vorgeworfen, sie seien anti-sowjetisch, waren das aber nicht.“

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Foto von Artem Humilevskyi, der nicht aus Charkiw stammt, aber der Ästhetik und dem Stil der Charkiwer Schule folgt

Zweideutigkeit als Ausweg

Die künstlerische Freiheit hatte ihre Grenzen an Vorgaben des sowjetischen Staates: Nacktheit spielte in den Werken eine Rolle, was den Künstlern von den Behörden aber oft als Pornografie ausgelegt wurde. Dabei haben die Akt-Fotos der Charkiwer Schule meist etwas Komisches oder Surreales. Es ging darum, im Vagen zu bleiben, mit Zweideutigkeit zu spielen, erklärt Serhiy Lebedynsky. Denn: wenn sich die Künstler nicht an die Regeln der staatlich vorgegebenen Ästhetik hielten, konnten sie Schwierigkeiten bekommen.

"Man musste diese Zweideutigkeit so zeigen, damit man nicht verhaftet zu werden und die anderen es trotzdem verstehen werden. Das war der Trick, nicht verhaftet zu werden – seine Idee durchzusetzen und trotzdem ein schönes Bild zu machen", sagt Lebedynsky. Er hat in Deutschland studiert und ist Fotograf.

Außerdem ist er Sammler und Direktor des Museums für die "Kharkiv School of Photography". Er hat dafür gesorgt, dass im vergangenen Jahr Dokumente, Fotos und Negative aus der ostukrainischen Stadt nach Wolfsburg gebracht wurden, über 2.000 Kilogramm Material, erzählt Lebedynsky: "In der Ausstellung in Nürnberg ist auch die grausame Gegenwart in der Ukraine zu sehen. Und auch die Bilder aus dem Krieg sind künstlerisch bearbeitet. Die zerstörten Häuser sind schwarz-weiß abgelichtet, die Kontraste verstärkt, manchmal auch verzerrt.

Das hat auch mit dem Material zu tun: Denn die "Kharkiv School of Photography" arbeitet immer noch mit altem sowjetischen Fotopapier", sagt Lebedynsky. Diese Material, verhalte sich immer unterschiedlich und bringe eine gewisse materielle Dynamik in das Bild, was die Dynamik in allen Ereignissen im Lande irgendwie widerspiegele. Von dem Foto-Papier sei – Jahrzehnte nach dem Ende der Sowjetunion – nicht mehr viel übrig. Das Sowjetische schleiche sich langsam aus und das sei gut so, sagt Lebedynsky. Er arbeitet von Deutschland aus daran, alles von der Kharkiv School of Photography zu sammeln, sucht die noch lebenden Fotografen auf.

Die Erinnerung bewahren

Ihm geht es darum, die Bewegung, die es nun seit 50 Jahren gibt und die zur kulturellen Identität der Ukraine gehört, bekannter zu machen – und zu retten. Sein Ziel sei es sich mehr der anderen Tätigkeit zu widmen. Dem Verlag, der Forschung. Wenn der Krieg endet, möchten sie zurückfahren, um am nächsten Tag das Museum wieder aufzumachen.

Das Ausstellungskonzept hat der Fotograf und freischaffende Kurator Elias Zhekalov entwickelt und umgesetzt: Er hat die Bildauswahl getroffen, sowie die Ausstellung Raum für Raum gestaltet. Zhekalov hat sehr viel Herzblut in diese Nürnberger Ausstellung eingebracht und ist verantwortlich dafür, dass dieser kulturelle Schatz der Ukraine in Nürnberg zu sehen ist. "Die Sammlung wurde aus der Ukraine in Sicherheit gebracht, so wie viele andere Sammlungen", berichtet Zhekalov. Kunstwerke und Museen aus den von Russland besetzen Gebieten seien verloren, sagt er. "Das ist sehr, sehr schmerzhaft“.

Auch wenn es Reprints, also Nachdrucke sind: Die Ausstellung der Nürnberger Künstlergruppe "Der Kreis" über die "Kharkiv School of Photography" lohnt sich und gibt einen Einblick in die künstlerische Bewegung und ihren Stil. Geöffnet hat sie bis zum 13. August. Öffentliche Führungen gibt es jeweils sonntags um 14 Uhr. Es werden auch Führungen in ukrainischer Sprache angeboten.

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