Der russische Präsident beim Interview mit der China Media Corporation
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Wladimir Putin

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"Niemand hat sie gesehen": Putin nennt Regeln "Blödsinn"

In einem Interview mit dem chinesischen Staatsfernsehen verbreitet der russische Präsident groteske Propaganda-Parolen, während sich seine Landsleute fragen, ob China ein "Partner" oder eher der "große Bruder" ist: "Es gibt Zweifel und Widersprüche."

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

"Bisher hat es nicht sonderlich gut geklappt", so der Kolumnist des liberalen russischen Wirtschaftsblatts "Kommersant" über Putins großes Propaganda-Ziel, die angebliche "Vorherrschaft" der USA zu brechen. Kurz vor dem Peking-Besuch des russischen Präsidenten zeigt sich Dmitri Drise wenig überzeugt vom Vorgehen des Kremls: "Werden Moskau und Peking in der Lage sein, die wahren Umrisse einer multipolaren Welt zu skizzieren, um dem Westen wirklich Widerstand zu leisten? Bisher sind hier keine nennenswerten Fortschritte zu verzeichnen. Und ein weiterer schwieriger Punkt ist die Positionierung Russlands: Welche Rolle spielt es in dieser sehr multipolaren Welt – sind China und wir gleichberechtigte Partner oder ist China wie ein großer Bruder? Hier gibt es einige Zweifel und Ungereimtheiten."

"So ist es bei allem"

Der Experte rätselt, was eigentlich Putins "Generallinie" sei und vermutet, auch in Peking seien sich die dortigen Verantwortlichen darüber offenbar nicht im Klaren: "Hauptzweck des Besuchs ist höchstwahrscheinlich der Wunsch der chinesischen Genossen, sowohl die unmittelbaren Pläne des Kremls als auch seine weiteren Absichten zu verstehen." Ein weiterer einflussreicher russischer Polit-Blogger beklagte ebenfalls, dass Russland keinerlei nachvollziehbare Strategie habe und sich vom Strom der Ereignisse treiben lasse: "Nicht nur zum palästinensisch-israelischen Konflikt vertritt Moskau keine eigene Position. Sie können dort nicht einmal etwas Verständliches über [die Kaukausus-Region] Berg-Karabach sagen, obwohl sie 30 Jahre lang an der Aussöhnung der Parteien [Armenien und Aserbaidschan] teilgenommen haben. Und so ist es bei allem."

So verkaufe Putin auch an "unfreundliche Länder" Öl und Gas, und selbst der Kriegsgegner Ukraine sei nach wie vor Pipeline-Transitland. Die Orientierungslosigkeit des Kremls habe allerdings auch "Vorteile", war zu lesen: "Denn es ist unmöglich, uns in die Irre zu führen – es ist uns egal, wohin wir gehen." Militärblogger Roman Aljechin empfahl Peking sogar als neues Vorbild: "Wir müssen von den Chinesen langfristiges Management lernen, um ein langfristiges Russland aufzubauen."

"Das ist ein kolonialer Ansatz"

In einem Interview mit dem chinesischen Staatsfernsehen trug Putin nicht dazu bei, diesbezüglich für "Aufklärung" zu sorgen. Stattdessen verlor er sich in grotesken Propaganda-Parolen. So bezeichnete er internationale Spielregeln als "koloniales Denken": "Haben Sie diese Regeln irgendwann mal gesehen? Nein, denn niemand hat sie jemals aufgeschrieben und niemand hat ihnen jemals zugestimmt. Wie können wir über Ordnung sprechen, die auf Regeln basiert, die niemand gesehen hat? Aus der Sicht des gesunden Menschenverstandes ist das Blödsinn, das ist eine Art Blödsinn. Aber es ist für diejenigen von Vorteil, die diesen Ansatz verfolgen. Denn wenn niemand diese Regeln gesehen hat, bedeutet das, dass diejenigen, die ständig darüber reden, diese Regeln von Fall zu Fall auf eine Weise auslegen, die ihren Interessen entspricht. Das ist ein kolonialer Ansatz."

Russland komme wieder "auf die Beine", so Putin, auch wenn es Probleme gebe: "Die multipolare Welt entsteht tatsächlich von selbst." Grund dafür sei, dass kein Land "an der Seitenlinie" des internationalen Geschehens stehen, sondern alle "gleichberechtigt" sein wollten.

Den chinesischen Staatschef Xi Jinping nannte Putin einen "Freund" und ergänzte, wenn er ihn lobe, fühle er sich "irgendwie unwohl", schließlich gebe es das Sprichwort "Zeige mir deine Freunde und ich sage dir, wer du bist": "Es ist, als würde ich mich selbst loben." Der chinesische Amtskollege sei ein "gründlicher, ruhiger, sachorientierter und zuverlässiger Partner" und im Unterschied zu den "Leiharbeitern" der Weltpolitik, die "nach fünf Minuten" wieder in der Versenkung verschwänden, ein "echter Weltpolitiker". Empört zeigte sich Putin über Regierungen, die nach ihrem Amtsantritt "etwas von Grund auf änderten", so dass alles wieder von vorn beginne: "Es ist sehr schwierig, mit solchen Menschen einen Dialog zu führen." Einmal mehr verkaufte Putin autoritäre Langzeit-Regime somit als "Stabilitätsanker": "Unsere Grundlage war immer der gute Wille."

Putin: "Sport bildet, und das ist sehr wichtig"

Was die verpönten Regeln betrifft, zeigte sich Putin immerhin von ihren segensreichen Folgen im Sport angetan, und zwar mit Verweis auf seine eigene Erfahrung als Mitglied einer Jugend-Gang in St. Petersburg: "Keine Ahnung, wie mein Schicksal verlaufen wäre, wenn ich mich nicht für Sport interessiert hätte. Tatsächlich spielt es keine Rolle, welche Art von Sport, es ist wichtig, dass es Sport ist, und ich habe ihm viel Aufmerksamkeit geschenkt. Es wurde sofort klar, dass man seine Prioritäten nicht im Hinterhof, nicht in einer, sagen wir mal, nicht sehr disziplinierten Jugendclique durchsetzen sollte, sondern auf Sportplätzen, in diesem Fall auf der Tatami [Kampfsport-Matte]. Es ergaben sich sofort bestimmte Ansichten über Beziehungen zu anderen Menschen, wie man diese Beziehungen pflegt, wie man Partner mit Respekt behandelt, wie man alles vermeidet, was die Beziehungen zwischen Menschen irgendwie untergraben könnte und so weiter. Sport bildet, und das ist sehr wichtig."

Nebenbei schimpfte Putin auf den "Kommerz" im internationalen Sport ("Bei uns gibt es das nicht"), empfahl chinesische Kampfsportarten und erwähnte, dass er seit mehr als zehn Jahren Eishockey spielt: "Mannschaftssportarten sind immer interessant, emotional, spannend und bieten die Möglichkeit, sich mal richtig vom Zeitgeschehen zu erholen." Er lobte russische Eiskunstläuferinnen, die so erbittert wie "Feen" miteinander wetteiferten und hatte auch ein paar Worte für Pekings Propaganda übrig: "Wissen Sie, mir scheint, dass der Hauptvorteil des von der chinesischen Seite vorgeschlagenen Konzepts der Interaktion darin besteht, dass im Rahmen dieser Arbeit niemand jemandem etwas aufdrängt. Niemand zwingt irgendjemandem etwas auf, es wird nur eine Chance geboten."

"Wer würde mit Putin verhandeln?"

Im eigenen Land findet Putin mit seiner China-Begeisterung keineswegs ungeteilten Beifall. "Es würde mich nicht wundern, wenn China der größte Gewinner des [Ukraine]-Konflikts wäre", meinte ein Kommentator. Ein weiterer Leser der St. Petersburger Zeitung "Fontanka" schrieb: "Nun, wer würde bei klarem Verstand mit Putin verhandeln?" Mit Blick auf Putins Bemerkungen, er sei mit Xi "befreundet" und habe seinen 71. Geburtstag im "Freundeskreis" gefeiert, spottete ein Beobachter: "Ich hätte nie gedacht, dass er einen Freundes- und Verwandtenkreis hat. Nun ja, ich weiß von der Ballerina [Sportgymnastikerin Alina Kabajewa, Putins angebliche Geliebte], aber stehen sie sich wirklich nahe? [Kremlsprecher] Peskow und [Ex-Präsident] Medwedew werden normalerweise als Kollegen und nicht als Freunde bezeichnet. Ich habe noch nie gehört, dass ihn jemand einen geliebten Menschen oder einen Freund nannte."

Sogar ein so systemtreuer russischer Journalist wie Michail Schipanow vom Portal "News" wollte sich den Hymnen von Putin Richtung Peking ausdrücklich nicht anschließen: "Inzwischen versteht jeder, dass in unseren Beziehungen zu China nicht alles so rosig ist. In unserem Land gibt es eine starke pro-chinesische Lobby, aber auch Kräfte, die befürchten, dass unser Russland, anstatt vom Westen abhängig zu sein, übermäßig von China abhängig werden könnte. Vor nicht allzu langer Zeit sagte der Moskauer Bürgermeister, Sergej Sobjanin, unverblümt, dass im Osten äußerst raue Sitten herrschen. Sie weigern sich, uns Technologie zu verkaufen, sondern bieten an, stattdessen Fertigwaren abzunehmen, die viel teurer sind. Es ist klar, an wen der Moskauer Bürgermeister dabei in erster Linie gedacht hat."

"China und Indien sind misstrauisch"

Der russische China-Kenner und Kulturwissenschaftler Tugarinow behauptete: "Jeder im Fernen Osten weiß, dass China, Indien usw. gegenüber den russischen Eliten misstrauisch sind. Nicht gegenüber dem Präsidenten, dessen Glaubwürdigkeit unglaublich hoch ist, sondern gegenüber unseren Eliten, und es ist dieses Misstrauen, das die Entwicklung einer umfassenden Zusammenarbeit verhindert. Wir sind ihnen immer noch zu 'westlich'." Letztlich gehe es um eine klare Positionierung, wie sie der deutsche Philosoph Carl Schmitt eingefordert habe, nämlich zwischen "Freund" und "Feind": "Sie verlangen von uns eine Entscheidung: Mit wem wollt ihr zusammen sein?"

Bedenken gegen chinesischen Yuan

Russische Experten verwiesen vor allem auf finanzielle Probleme, die einer Annäherung zwischen Moskau und Peking entgegenstünden. Es gebe keine ausreichende Banken-Infrastruktur für die Abwicklung engerer Wirtschaftsbeziehungen, so der russische Fachmann Juri Tawrowski. Erstens orientierten sich sowohl russische, als auch chinesische Banker nach wie vor am Westen, zweitens stünden die fünf größten chinesischen Banken auf der Bremse, weil sie westliche Sanktionen befürchteten, vor allem eine mögliche Trennung vom Zahlungsabwickler SWIFT, dem weltweit 11.000 Banken angeschlossen sind.

Außerdem warnten Fachleute vor einem Abschied vom US-Dollar als zentraler Leitwährung, wie ihn Putin predigt. Eine Hinwendung zum chinesischen Yuan könne Russland ein ähnliches Schicksal wie Argentinien bereiten, nämlich die Abhängigkeit von Peking verstärken: "Finanzinstrumente im politischen Kampf einzusetzen, führt nur dazu, dass die eigene Souveränität tatsächlich zum Teil auf einen anderen Staat verlagert wird." Statt den Dollar zugunsten des Yuan aufzugeben, böten sich "alternative Optionen" an, wie etwa das "Hawala-Finanzsystem", das hauptsächlich in islamischen Ländern zur Anwendung kommt.

Fast schon humoristisch ist eine Bemerkung des stellvertretenden Vorsitzenden des Finanzausschusses im russischen Parlament, Oleg Sawtschenko: "Der Yuan hängt vom Dollar ab, weil China sehr wesentlich in amerikanische Wertpapiere investiert hat. Auf dieser Grundlage sind wir immer noch vom Dollar abhängig, aber indirekt."

Das ist die Europäische Perspektive bei BR24.