Der russische Präsident sitzt am weißen Schreibtisch
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Putin im Mai 2023 bei einem Online-Treffen mit Irans Präsident Ebrahim Raisi

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Putin und der Iran: "Wenn ihre Freunde zu Schurken werden"

Der Nahkostkrieg bringt den Kreml in eine "unangenehme Lage", urteilen russische Experten. Grund dafür: Putins Bündnis mit dem Iran mache ihn zu einem bloßen "Beobachter" ohne jede Einflussmöglichkeit: "Alle Generäle aller Länder überschätzen sich."

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Im Moment gebe es keine Kontakte zwischen Russland und den Kriegsparteien im Nahen Osten, so Kremlsprecher Dmitri Peskow, was ihn nicht an ein paar diplomatischen Floskeln hinderte: "Wir sind äußerst besorgt und glauben, dass diese Situation so schnell wie möglich wieder in eine friedliche Richtung gebracht werden muss. Denn die Fortsetzung einer solchen Gewaltspirale ist natürlich mit einer weiteren Eskalation und einer Ausweitung dieses Konflikts verbunden. Das ist eine große Gefahr für die Region." Damit umschrieb Peskow nichts anderes als die völlige Bedeutungslosigkeit des Kremls im Konflikt zwischen Israel und der Hamas.

"Es ist lustig zu lesen, dass die Russische Föderation das angesehenste Land im Nahen Osten sei. Woher stammen solche unbestätigten Informationen?" fragte sich ein Blogger nach entsprechenden Jubelberichten: "Derzeit genießt Russland nur bei den Taliban und anderen Gruppen Respekt, da [Außenminister] Lawrow und der Kreml mit ihnen befreundet scheinen." Russland habe mittlerweile "tolle Freunde" und sei ein bemerkenswerter "Friedensstifter", spotteten Leser mit Blick auf Putins "Verbündete" Iran und Nordkorea. Mit Blick auf die Mobilisierung von 300.000 Soldaten in Israel hieß es: "Und Israel musste keine Knastinsassen aus irgendwelchen Gefängnissen rekrutieren." Ein sarkastischer Hinweis auf die russische Methode, Söldner anzuheuern: "Dort verstehen die Menschen klar, wofür sie kämpfen, im Gegensatz zu den 'Zielen', die Wladimir seit eineinhalb Jahren nicht mehr formulieren kann, was keine große, sondern eine neuartige Leistung ist."

"Russland hat rein physisch keine Argumente"

Blogger Ilja Ananjew machte sich über das russische Außenministerium lustig, das offiziell verkündet hatte, der Nahostkrieg werde "beobachtet". Ein "Beobachter" sei definitionsgemäß aber kein Mitspieler mehr: "Angesichts eines so schwierigen und langwierigen Konflikts in der Ukraine tendiert die Bedeutung unserer diplomatischen Rhetorik zur Lösung des Krieges zwischen Israel und Palästina gegen Null. Wir 'beobachteten', wie Berg-Karabach von Aserbaidschan besetzt wurde, und wir werden die heikle Konfrontation mit der Hamas 'beobachten'. Russland hat rein physisch keine Argumente, die es ins Feld führen könnte, da es durch seine Nordost-Front 'erschöpft' ist."

Seine außenpolitische Isolation in der krisenanfälligen Nahost-Region hat Putin selbstverschuldet, so russische Beobachter, weil er mit dem Iran paktiert, der Russland Drohnen und andere Waffen liefert: "Der Kreml kam in eine unangenehme, aber vorhersehbare Situation. Er kann die Aktionen der Hamas nicht als terroristisch bezeichnen, da der Iran, der hinter dem Angriff auf Israel steht, einer unserer wenigen verbliebenen Partner und Verbündeten ist. Wenn Ihre einzigen Freunde durch den Willen des Schicksals, durch Zufall oder durch Dummheit zu Schurken und Kriminellen werden, dann werden Sie sehr schnell einer von ihnen."

"Russen sind Israels säkularer Gesellschaft näher"

Die Kolumnistin des Blogs "Russland kurzgefasst" (500.000 Fans), Ekaterina Winokurowa, kam ungeachtet von Putins Bündnispolitik zum Fazit: "Iran, Palästina und insbesondere palästinensische Militante sind für uns eindeutig kulturell 'fremd'. Die Behörden können so viel über den totalen Siegeszug traditioneller Werte reden, wie sie wollen, aber die Russen sind der säkularen Gesellschaft Israels immer noch näher, wenn auch auf Abstand, als die Menschen, die versuchen, im wahrsten Sinne des Wortes nach den Geboten der Eisenzeit zu leben, die die Rechte der Frauen unterdrücken und, was am wichtigsten ist, die den absoluten Wert des menschlichen Lebens nicht in den Mittelpunkt ihres Handelns stellen – ja nicht einmal den Wert des Lebens der Mitglieder der eigenen Gesellschaft."

"Irans Partner sollten keinen Grund zum Optimismus haben"

Selbst bei systemtreuen russischen Experten überwiegen die Sorgen und Bedenken vor den Auswirkungen des Nahostkriegs auf die weiteren politischen Aussichten des Kremls. Politologe Sergej Markow ist eine Ausnahme und schrieb, Russland sei in diesem Fall "neutral", allerdings sei Netanjahu seit vielen Jahren ein "politischer Freund" Putins, auch, wenn er seit dem Ukrainekrieg "Angst habe", das öffentlich zuzugeben: "Russland profitiert von allen Konflikten, für die die USA und die EU Ressourcen bereitstellen müssen, da dadurch die Ressourcen für das russlandfeindliche Regime in der Ukraine verringert werden."

Ganz anders sieht es der russische Experte Konstantin Kalaschew. Er sei "skeptisch", ob der Nahostkrieg die Lage in der Ukraine irgendwie beeinträchtigen werde: "Ich persönlich glaube an die Fähigkeiten Israels und seiner Verbündeten. Ich halte die Hoffnungen, dass ein neuer Krieg im Nahen Osten die Aufmerksamkeit aller vom Konflikt zwischen Russland und der Ukraine ablenken wird und dass es für Moskau 'im Stillen' einfacher wird, mit Kiew umzugehen, für illusorisch." Ähnlich urteilt der Politikwissenschaftler Avigdor Eskin: "Jetzt werden Sie sehen, wie Israel zusammenfindet und Wunder vollbringt. Irans Partner sollten keinen Grund zum Optimismus haben."

"Frage liegt auf der Hand"

Alexej Kylasow von der Moskauer Wirtschaftshochschule erinnerte an ein unversöhnliches Zitat aus der Ballade "Vom Osten und Westen" des britischen Autors Joseph Rudyard Kipling: "Oh, Ost ist Ost, und West ist West, und es verbindet sie nichts, bis Himmel und Erde stille stehen." Der Iran werde durch Russland und China gestärkt, Israel vertraue auf den "kollektiven Westen", dazwischen gebe es keine Kompromissmöglichkeiten: "Das wird auf ewige Zeiten durch die Inschrift auf der ersten Seite des iranischen Passes bestätigt, wonach der Inhaber dieses Dokuments unter gar keinen Umständen das Gebiet des besetzten Palästina – das sogenannte Israel – besuchen darf."

Politologe Georgi Bovt gab zu bedenken, dass Putin am 11. September 2001 einer der ersten gewesen sei, der den USA sein Beileid zum damaligen Terroranschlag ausgesprochen habe, während Moskau jetzt schweige, obwohl "1.100 Tote für das kleine Israel im Verhältnis noch viel schlimmer" seien als 3.000 Tote für Amerika: "Die Frage hier liegt auf der Hand: Wenn es sich bei dem Geschehen um einen Terroranschlag handelt, ist es notwendig, jeden Kontakt zur Hamas abzubrechen und sie zur Terrorgruppe zu erklären. Das jedoch wird einen Konflikt mit dem Iran und Katar bedeuten. Katar finanziert und Iran leitet diese Gruppe."

"Heutzutage lässt jeder andere für sich kämpfen"

Bovt klagte über den "Antisemitismus von Höhlenmenschen", der sich in Russland ausbreite. Es gebe derzeit keine Anzeichen dafür, dass Putin in irgendeiner Weise vom Nahostkrieg profitieren könne: "Kurzfristig braucht Israel weder Waffen noch Geld. Was es nach einiger Zeit objektiv brauchen könnte, ist echte militärische Unterstützung in Form von Truppen seiner Verbündeten, einschließlich der Amerikaner. Allerdings erscheint ein solches Szenario immer noch utopisch. Die Zeiten sind nicht danach. Heutzutage bevorzugt es jeder, andere für sich kämpfen zu lassen."

Wüster Antisemitismus wird in Putins Russland tatsächlich ungestraft verbreitet, gleichzeitig schimpfen nicht wenige "Z-Blogger", also nationalistische Kriegsberichterstatter, auf islamische Migranten aus Zentralasien, die für Russland angeblich so bedrohlich seien wie der sprichwörtliche "schwarze Schwan", der bekanntlich unvorhersehbare Katastrophen mit sich bringt. Bitter wird von diesen chauvinistischen Beobachtern bemerkt, dass israelische und russische Militärs eine fatale Gemeinsamkeit hätten, nämlich den "arroganten" Glauben an ihre eigene Unverwundbarkeit: "Viele Menschen haben mich auf die Anmaßung Israels aufmerksam gemacht. Die Angewohnheit, sich für die Coolsten von allen zu halten, erwies sich für die Israelis als grausamer Wink des Schicksals. Die Menschen ziehen Parallelen zu uns selbst aus der Zeit bei Kriegsbeginn, als wir überzeugt waren, die zweitbeste Armee der Welt zu haben. Jetzt werden wir dieses Niveau definitiv erreichen können, nachdem wir aus erster Hand erfahren haben, was Krieg bedeutet."

"Fortlaufende Kette ungleicher Tauschaktionen"

Mit einer originellen Einschätzung fiel der russische Politologe Wladimir Pastuchow auf. Er behauptete, Russland und der Iran hätten die Palästinenser als Schachfiguren "geopfert", um die Annäherung zwischen Israel und Saudi-Arabien zu hintertreiben. Allerdings seien "nur wenige Menschen" an einer direkten Beteiligung des Iran an einem Nahostkrieg interessiert.

Wie internationale Politik funktioniert, beschrieb Pastuchow mit einem grotesken Karussell der Interessenskonflikte: "Die moderne Geopolitik ist eine fortlaufende Kette ungleicher Tauschaktionen. Russland erwarb die Krim, verlor jedoch die gesamte Ukraine, die schließlich an den Westen und an die Vereinigten Staaten ging. Die Vereinigten Staaten gewannen die Ukraine, verloren jedoch Russland, das sich schließlich nach Osten Richtung China wandte. China hat Russland an seiner Seite, aber die Vereinigten Staaten aus den Augen verloren, die, ausgelaugt von alledem, versuchen, sich auf sich selbst zu konzentrieren, also zu Trump zurückzukehren. Trump wiederum kommt nicht voran, deshalb möchte er Russland von China loseisen und die Krim mit Hilfe Russlands gegen die Ukraine eintauschen. Die Erlöse aus all den Geschäften will er in seinem eigenen Land reinvestieren, um das [amerikanische] Haushaltsloch zu schließen."

"Einfache Leute glauben Hurra-Propaganda"

Mit Galgenhumor reagierte Blogger Fedor Kraschennikow auf die traurige Zunahme militärischer Auseinandersetzungen: "Ich, ein Zivilist, ziehe aus all dem eine Schlussfolgerung, die aus der unrühmlichen Geschichte aller Kriege ganz offensichtlich hervorgeht: Alle Generäle aller Länder bereiten sich immer auf den aller letzten Krieg vor, überschätzen sich selbst, unterschätzen den Feind und die einfachen Leute glauben dieser Hurra-Propaganda, dass die unseren hui sind, hoch zu Roß sitzen und den Horizont fixieren. Dann wundern sie sich, dass die Eindringlinge in Wohngebieten marodieren und auch noch am dritten Tag Menschen töten."

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