St. Pauli-Fans am 12. Mai 2024 in Hamburg im Millerntor-Stadion: Ein Mann mit bemaltem Gesicht sitzt auf einem Zaun, rechts und links von ihm Jungs in Trikots.
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St. Pauli-Fans feiern vor dem Anpfiff des Spiels gegen den VfL Osnabrück am 12. Mai 2024 in Hamburg im Millerntor-Stadion.

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Kommt Fan von Fanatiker? Sportpassionen zwischen Liebe und Hass

Fan zu sein, das ist Passion. In doppelter Wortbedeutung: Leiden und Leidenschaft. Schriftsteller Ilija Trojanow und Autor Klaus Zeyringer haben ein Buch darüber geschrieben, wie sich Sportbegeisterung anfühlt. Und warum sie politisch ist.

Über dieses Thema berichtet: Kulturleben am .

Bald ist es so weit: Am 14. Juni startet die Fußball-EM 2024 in Deutschland. Alle, die etwas mit dem Sport am Hut haben, hoffen darauf, dass es wieder ein "Sommermärchen" wird wie die WM 2006. Ein ganzes Land im Ballfieber, wochenlang Euphorie im Kollektiv. Und vielleicht schafft es die Nationalmannschaft ja dieses Mal sogar, am Ende um den Sieg zu spielen und nicht um Platz 3.

Die vergänglichen Götter des Sports

So ein Sommermärchen kann ansteckend sein – und auch diejenigen zum Public Viewing bringen, die eigentlich nicht unbedingt fußballbegeistert sind. Die anderen, die echten Fans, das sind die, die auch zwischen den Großevents von UEFA oder FIFA mitfiebern. Das Wort "Fan" geht aufs Lateinische zurück, auf "fanaticus", was so viel bedeutet wie "von der Gottheit in Verzückung, in Raserei versetzt". Hat es also auch etwas Religiöses, ein Fan zu sein?

Ja und nein, sagt Klaus Zeyringer im Interview mit dem BR. Der Germanist und Sportliebhaber hat zusammen mit dem Schriftsteller Ilija Trojanow ein Buch über die Höhen und Tiefen sportlicher Leidenschaft geschrieben. Zwar könne es beim Sport einen ähnlichen Taumel, eine ähnliche Ekstase geben wie in religiösen Erfahrungen, so Zeyringer. Auch erinnere manches rund um das Mitfeiern von Spielen und Wettkämpfen an den Charakter von Liturgie. Ein Religionsersatz aber sei der Sport nicht, denn: "Die Götter werden ja dann irgendwann nicht mehr da sein auf dem Spielfeld – und durch andere Götter ersetzt".

Gegner haben, Gegner besiegen

Trojanow und Zeyringer verbinden in ihrem Buch sehr persönliche Reportagen mit analytischen Kapiteln. Dabei geht es nicht nur um Fußball, sondern um ganz unterschiedliche Sportarten, für die sich auch die Zuschauerbegeisterung unterschiedlich anfühlen kann. Im übervollen, tobenden Alexandra Palace, dem "Ally Pally" in London, bei der Darts-WM dabei zu sein, ist etwas anderes, als bei der Tour de France in Alpe d'Huez die Fahrer für ihre Qualen bei der Bergankunft zu bejubeln. Oder, auch das eine spezielle Erfahrung, sich das Viertelfinalspiel einer Handball-WM der Frauen mit nur zwölf deutschen Fans anzuschauen: Auch Leere kann beeindruckend sein, erinnert sich Klaus Zeyringer.

Gemeinsam ist allen diesen Erlebnissen die Hingabe an die Dramen und Triumphe des Sports. Die natürlich immer auch damit zu tun haben, Gegner zu haben, die es zu besiegen gilt. Sport und Fantum eignen sich bestens für Identifikation – und für Identifikationspolitik. "Tatsächlich beginnen Kriege im Stadion. Oder im Stadion geht es zu wie in einem Krieg", sagt Klaus Zeyringer und erinnert an Ausschreitungen und Straßenschlachten nach einem Spiel zwischen Roter Stern Belgrad und Dinamo Zagreb im Mai 1990. Dort waren Wut und Feindschaft am Werk, die wenig später in die Jugoslawienkriege führten.

Wie viel "Henker" steckt in einer Fankurve?

"Der wahre Henker ist die Masse, die sich um das Blutgerüst versammelt", schrieb Elias Canetti 1960 in seinem Hauptwerk "Masse und Macht". Zwar ist ein Spielfeld kein "Blutgerüst", aber ein Stadion durchaus ein Ort, für den sich sehr gut Massenpsychologie betreiben lässt. Frage also an Klaus Zeyringer: Wie viel "Henker" steckt in so einer durchschnittlichen Fankurve? Antwort: Manchmal "ziemlich viel". Nicht überall geht es so wenig aggressiv zu wie etwa bei der Tour de France oder beim Schwingen, dem Schweizer National-Kampfsport. Anders beim Fußball: "Dort ist am meisten Geld unterwegs, dort werden die Leidenschaften in den Medien entsprechend gepusht. Und da gibt es dann die Verwandlung von Menschen, die im Alltag die liebsten und nettesten sind und auf der Tribüne zu Berserkern werden." Was sich in Kämpfen zwischen Fangruppen oder auch in rassistischen Anfeindungen gegen Spieler äußern könne.

Das große Geschäft mit dem Sport

Und wenn vom Geld schon die Rede ist: Es ist sehr ungleich verteilt je nach Sportarten, doch gerade im Fußball kann einem das große Geschäft mit dem Sport die Fanfreude trüben. Zwar waren es die ebenso wütenden wie kreativen Fan-Proteste, die zu Beginn des Jahres den Einstieg eines Großinvestors bei der Deutschen Fußball Liga gestoppt haben. Doch der Sport bleibt ein Milliardenspiel, das anfällig ist für Korruption, wie die Skandale des Weltfußballverbands FIFA immer wieder zeigen.

Kann man bei all dem noch guten Gewissens Fan sein? Eine schwierige Frage, sagt Klaus Zeyringer, da sei er selbst zwiegespalten: "Einerseits sehe ich diese Zustände, die ich für katastrophal und ziemlich mafiös halte". Andererseits könne er nicht anders, als sich Fußball anzuschauen – und Fan "seines" Clubs FC Nantes zu sein, wie er es seit Ende der 70er-Jahre ist. Damals kam er aus beruflichen Gründen in den Westens Frankreichs und verlor sein Herz an den Verein mit seinem "jeu à la nantaise", einem offensiven und direkten Spiel, von dem sogar die ganz Großen wie der FC Barcelona gelernt haben. Treue – auch das zeichnet Fans nun einmal aus.

Ein gutes Gewissen kann man, so Klaus Zeyringer, dennoch nicht unbedingt haben, wenn man sich für einen Sport begeistert, der Teil eines Systems ist, das "keineswegs demokratisch" und "zum Teil kriminell" ist. Aber: "Es wäre gut, wenn man schon Fan ist, dass man sich über diese Zustände informiert und dass man versucht, sich dagegen zu formieren, was zugegebenermaßen ziemlich schwierig ist."

"Fans. Von den Höhen und Tiefen sportlicher Leidenschaft" von Ilija Trojanow und Klaus Zeyringer ist bei S. Fischer erschienen.

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