Sänger und Sängerinnen in rosa und grünen Kostümen
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"Käärijä" aus Finnland bei der ESC-Generalprobe in Malmö

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"Kerle in Korsetts": So kämpft Russland gegen den ESC

Für Putins Propagandisten ist der internationale Schlagerwettbewerb eine "satanische" Veranstaltung zwischen "Dämonismus und Gottlosigkeit". Europa müsse dafür "bestraft" werden: "Das nächste Mal werden sie wahrscheinlich sogar Sex haben."

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Für den russischen Militärblogger Roman Aljechin (120.000 Fans) ist es höchste Zeit, dass die "degenerierten und korrupten Europäer" für den Eurovision Song Contest (ESC) zur Verantwortung gezogen werden. Vermutlich würden das eines Tages arabische Migranten erledigen: "In diesem Krieg wird derjenige gestärkt, der die zuverlässigste moralische und spirituelle Unterstützung hat und auf Gott vertraut. Unser Vertrauen auf ihn wird immer inniger und das macht uns glücklich!" Europas größte TV-Show sei dem "Dämonismus und der Gottlosigkeit" gewidmet, wer sich so etwas ansehe, habe eine "Grenze" passiert, hinter der es kein Zurück mehr gebe: "Wir können keine Verbündeten und Freunde mehr sein."

"Wir benötigen eine Stahlbetonmauer"

Solche Tiraden sind keine Ausnahme. Das "teuflische Ritual" in Malmö müsse mit "Gebeten niedergemäht" werden, heißt es in einem der größten Kriegsblogs. "Das ist Sodom und Gomorra, ein Zirkus der Freaks", wird gewettert, und mancher fürchtet, dass die Teilnehmer am ESC demnächst "sogar Sex" vor der Kamera haben würden. Noch nie habe ein Teilnahmeverbot Russland so sehr "erfreut", ist im Nachrichtenportal "Argumenti y Fakti" zu lesen, wo auch zahlreiche Kommentare von Lesern zitiert werden, natürlich nur negative.

Mit dem Abzug Russlands aus Osteuropa habe dort der Verfall begonnen, so Propagandisten. Mancher forderte einen neuen "Eisernen Vorhang", damit Russland vor dem ESC in Sicherheit ist, was bestritten wurde: "Wir benötigen keinen Vorhang, sondern eine 100 Meter hohe Stahlbetonmauer. Und mindestens zehn Meter tief, damit niemand von der anderen Seite drunter her kriechen kann." Irritiert schrieb ein Kommentator, die Zuschauer in Malmö seien auch noch begeistert, wenn sie "diese Perversen" ansähen.

Womöglich muss der sibirische Schamane nach Malmö anreisen, der kürzlich angeboten hatte, das russische Parlament zu "reinigen", weil dort wegen der vielen gegenseitigen Beschimpfungen so viele "negative" Energien gespeichert seien.

Putin: "Unterstützer nehmen exponentiell zu"

Grund für solche bizarren Propaganda-Auswüchse: Putin begründet seinen Angriffskrieg damit, dass Russland "traditionelle" Werte verteidigen müsse, womit er heterosexuelle Beziehungen und Kinderreichtum meint. Gleichzeitig wird "Propaganda" für Homosexualität und jede andere "nicht traditionelle" Orientierung in Russland strafrechtlich verfolgt, was zu vielen grotesken Schlagzeilen führte. So gilt jede Darstellung eines Regenbogens für verwerflich, auch eine öffentlich bekannt gewordene "Nacktparty" in erotischer Bekleidung löste eine wochenlange Debatte aus.

Die teils prominenten Teilnehmer bekamen vorübergehend Auftrittsverbot und mussten Abbitte leisten. Kriterium dafür: eine Reise in Frontnähe und Fototermine mit Soldaten. Putin lobte unfreiwillig komisch den "Airbag" gegen "nicht traditionelle" Lebensformen, den es in Russland und vielen anderen Ländern noch gebe: "Wir haben auf der Welt eine riesige Zahl von Unterstützern für den Schutz unserer traditionellen Werte, eine riesige Zahl. Und ihre Zahl steigt exponentiell, exponentiell."

"Man muss ein Nudist sein"

Jedes farbenfrohe Outfit, das Zweifel an der "traditionellen" Orientierung aufkommen lässt, macht Passanten in Russland verdächtig, besonders natürlich die gelb-blaue Farbkombination der ukrainischen Nationalflagge. Diesbezüglich musste sich sogar die Ehefrau des russischen Botschafters in Berlin herbe Vorwürfe gefallen lassen, weil ihr bunter Seidenschal so "unglücklich" um den Hals hing, dass zufällig nur die genannten Farben zu sehen waren. Kritik traf auch bereits die Träger von auffälligen Sneaker-Schuhen in der U-Bahn. Fanatikern werden Denunziationen leicht gemacht.

Auch im Ausland scheint Putins Propaganda teilweise auf fruchtbaren Boden zu fallen. Nach dem Ausscheiden der Teilnehmerin Moldawiens im diesjährigen ESC-Halbfinale postete ein offenbar kremltreuer Fan den schlagzeilenträchtigen Kommentar: "Ich bin stolz auf Moldawien! Wir konkurrieren nicht mit FKK-Dämonen! Wenn andere denken, dass es besser ist, Prostitution zu fördern, und menschliche Werte und die Qualitäten eines Auftritts, der die Schönheit feiert, nicht schätzen wollen, dann werden wir ihn zu schätzen wissen! Ich habe erkannt, dass es unmöglich ist, als normale Person zu gewinnen, man muss ein Dämon oder ein Nudist sein."

"Gott der Herr rettete Russland vor Schwarzer Messe"

Dass "Männer in kurzen Hosen" und "Kerle in Korsetts" auf der Bühne zugelassen würden, sage alles über den Wettbewerb, ereiferten sich russische Traditionalisten: "Hier wird die Kunst gedemütigt". Das rechtsnationale russische Netzportal "Tsargrad" (Zarenstadt) schrieb: "Im ersten Halbfinale demonstrierten die Darsteller Ausschweifungen, Sodomie und sogar Satanismus. Mit einem Wort: Ohne die Beteiligung Russlands setzt der Wettbewerb neue Maßstäbe für westliche Shows." Das irische Duo "Bambie Thug" habe Kerzen in verdächtiger Formation angezündet, was an die Beschwörung des Teufels erinnert habe: "Gott der Herr rettete Russland vor der Teilnahme an einer Schwarzen Messe."

Der Leitartikler regte sich darüber auf, dass sexuelle Freizügigkeit im Westen offenbar weniger schlimm sei als Markenrechte: "Das I-Tüpfelchen war die Tatsache, dass die Produzenten der Show das Logo des amerikanischen Betriebssystems Microsoft Windows 95, das sich auf dem T-Shirt eines finnischen Teilnehmers befand, unkenntlich machten. Sodomie ist gestattet, aber das Urheberrecht bleibt unantastbar."

"Abschied von den Kühen"

Liberale russische Medien machen sich über solche rechtsextremen Eiferer nach wie vor gern lustig, allerdings nicht zu offensichtlich, was ideologisch gefährlich wäre. Das Wirtschaftsblatt "Kommersant" sagte mit Blick auf die Buchmacher in diesem Jahr den Erfolg des kroatischen Teilnehmers Marko Purišić ("Baby Lasagna") voraus, und zwar unter der ironischen Schlagzeile "Abschied von den Kühen": "Das Lied, das er für den Wettbewerb geschrieben hat, im Pop-Rhythmus und unterlegt mit dominierenden Gitarren, heißt 'Rim Tim Tagi Dim'. Die Hauptfigur ist ein junger Kroate, der seine Kuh verkauft hat, um auszuwandern. Der Titel des Liedes wurde dem Refrain eines fiktiven Volksliedes aus dem Heimatdorf des vorgestellten Helden entlehnt. Balkanländer gewinnen den ESC selten, erregen aber immer Aufmerksamkeit. Meistens handelt es sich um musikalisch simple, aber sehr fröhliche Nummern mit einem unverzichtbaren Folklore-Element."

Russlands ESC-Sieger ist "begeisterter Junggeselle"

Russland nahm erstmals 1994 am ESC teil und gewann den Wettbewerb 2008 sogar, weswegen Moskau ein Jahr darauf Austragungsort war. Der beim Finale in Belgrad siegreiche Sänger Dima Bilan ("Believe") hatte 2006 in Athen ("Never Let You Go") bereits den 2. Platz belegt. Bilan war einer der Stars auf der oben erwähnten, von der Propaganda viel geschmähten "Nacktparty" in Moskau. Der "begeisterte Junggeselle" ist Mitglied der rechtsnationalen russischen Liberaldemokraten und gilt als absolut systemtreu. Er wurde von der Ukraine und Kanada sanktioniert.

Vor seiner ESC-Teilnahme 2008 hatte Bilan versprochen, im Fall eines Sieges eine Freundin zu heiraten, was er allerdings nicht in die Tat umsetzte. Als er kürzlich bei einem TV-Auftritt einen Ring am Finger trug, überschlugen sich die russischen Medien mit romantischen Spekulationen: "Wir können nur raten und darauf warten, dass Bilan der Öffentlichkeit alles selbst erzählt." Zur "Buße" für seine Anwesenheit bei der "Nacktparty" reiste der Künstler im Januar in den Donbass und adoptierte dort medienwirksam eine schwarze Katze aus dem örtlichen Tierheim.

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