Porträt von Michail Bulgakov (1891-1940) im Jahr 1928
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Michail Bulgakov (1891-1940) im Jahr 1928

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In Russland im Kino: "Der Meister und Margarita" unzensiert?

Das epochale Werk von Michail Bulgakow ist der meistgelesene russische Roman des 20. Jahrhunderts. In der Sowjetunion durfte er erst 1966 häppchenweise in einer Zeitschrift erscheinen. Die Neuverfilmung lässt in Russland nun die Kinokassen klingeln.

Über dieses Thema berichtet: kulturWelt am .

Nach zwei Jahren Krieg gegen die Ukraine erfährt die Wirklichkeit in Russland wieder einmal atemraubende Verdrehungen. Die Realität nimmt immer groteskere, fantastischere Züge an, da war es nur eine Frage der Zeit, bis Woland wieder auftaucht, der berühmte "Professor für schwarze Magie" aus Michail Bulgakows epochalem Roman "Meister und Margarita".

Der Teufel hatte seine Finger sicher mit im Spiel, als in Russland in diesem Winter nach knapp drei Jahren Produktionszeit eine Neuverfilmung in die Kinos kam: Die beiläufige satirische Entlarvung des Totalitarismus, die Bulgakow einst seinem Roman eingeschrieben hatte und dabei auf Stalin abzielte, schmiegt sich nun mühelos an den Putinismus an. Ein hochaktueller Film, der in Russland nach Lage der Dinge nicht in die Kinos hätte kommen sollen, aber immerhin mit acht Millionen Euro aus dem staatlichen Kinofonds gefördert worden war.

"Politischer Volltreffer"

2021 war das, vor der großangelegten Invasion in die Ukraine. Der Kinokritiker Anton Dolin spricht gegenüber dem unabhängigen "Telekanal Dozd" von einem kinematografischen und politischen Volltreffer: "Es ist ein freier, wunderbarer, anti-totalitärer Film. Er handelt von dem Versuch des Staates, mithilfe von Lügen und Zensur einen begabten, vollkommen unabhängigen Schriftsteller zu verdrängen", so Dolin.

Heute passiere das in allen Bereichen der Kultur, auch im Kino. Können Sie sich einen Film heute vorstellen, der 2024 besagt, dass Putins Macht Gewalt bedeutet? Es liegt auf der Hand, dass das nicht möglich ist. Und doch ist es passiert. Der Film ist ein Anti-Stalin Film, ein anti-totalitärer Film, der zu einer Zeit herauskommt, in der die russischen Machthabenden im Cosplay der Stalin-Epoche aufgehen."

Ein Kriegsgegner als Regisseur

Regisseur aller Teufeleien im Moskau der 1930er- Jahre ist Michail Lokshin, ein Russe mit amerikanischem Pass – und von Anfang an entschiedener Kriegsgegner. Dabei hatte alles in vermeintlich bester patriotischer Tradition begonnen: Als eine Verfilmung russischer Literaturklassiker mit internationalem Staraufgebot von einem renommierten russischen Regisseur.

In Moskau und St. Petersburg wurde das Projekt voller nationalem Kulturstolz groß beworben. Doch dann taugte der Film angesichts eines immer repressiver werdenden Alltags seit Kriegsbeginn plötzlich zum scharfen Zeitdokument: Keine ruhmreiche Klassik, dafür deutliche Machtkritik. Wie da im Film gleichgeschaltete Kritiker über den "schädlichen, reaktionären und antisowjetischen" Text des Schriftstellers herfallen, weil er die These aufstellt, dass jegliche Macht den Menschen vergewaltige, führt direkt hin zu den infernalischen Kampagnen der Z-Kritiker gegen Kriegsgegner im russischen Kulturleben.

Durch die Zensur gerutscht?

Putins Chefpropagandist Wladimir Solowjew ist tatsächlich über das "antisowjetische, antirussische Thema" des Films empört; Tigran Keosajan, Ehemann von RT-Chefin Margarita Simonjan und propagandistischer Einpeitscher, fordert, dass man sich ernsthaft zusammensetzen und etwas gegen die Feinde im eigenen Land unternehmen möge – Zitat: "Angefangen bei den Producern bis hin zu den Strafverfolgungsbehörden." Die Producer beeilten sich schon mal zu beteuern, dass sie seit 2021 nichts mehr mit Michail Lokshin zu tun gehabt hätten.

Der Regisseur selbst wird als Russenhasser, Verräter und "neoliberaler Verleumder der unerschrockenen sowjetischen Geheimpolizei" verunglimpft. Z-Schriftsteller Sachar Prilepin nennt Lokshin einen "Volksfeind" – auch dies ein Begriff aus der Stalinzeit – der sich nicht mit dem "russischen Imperialismus" anfreunden könne, mit dem amerikanischen aber wohl. Das sei, so Prilepin, seine Entscheidung. Aber von den russischen Kino-Chefetagen, so Prilepin weiter, könne er wieder einmal nur das Kotzen kriegen. "Warum schweigt die Untersuchungskommission", fragt denn auch der Duma-Abgeordnete Lissakow und will wissen: "Wo ist die neue Elite?"

Jeder will den Film sehen – aus ganz unterschiedlichen Gründen

Einige Moskauer Kinos zeigen "Master i Margarita" zehnmal am Tag – alle Vorstellungen seit Wochen ausverkauft. "Ganz Russland schaut Meister und Margarita" schreibt das online-Magazin Meduza. Das Bedürfnis, seine eigene repressive Realität im Kino als Spiegel vorgehalten zu bekommen, ist offenbar groß. Dahinter verbirgt sich: Hunger nach Wahrheit.

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