Altertümliche Rituale beherrschen das Land
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"Ich sterbe morgen": Macht Putin mit Zukunftsangst Politik?

Der Kreml glaube nicht an den Fortschritt, sondern fürchte den Verfall, argumentiert Sozialforscher Maxim Trudoljubow mit originellen Argumenten. Der Optimismus der Aufklärung sei nicht bis Moskau gekommen: Dort klammere man sich an die Gegenwart.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Da passt das eine zum anderen: Kürzlich sehnte sich Patriarch Kyrill, Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche, nach dem Mittelalter zurück und verteufelte die Renaissance, also den Aufbruch in die Neuzeit vor 500 Jahren. Das sei eine "gefährliche" geistige Wende gewesen. Die Menschen hätten sich plötzlich selbst in den Mittelpunkt der Schöpfung gestellt, so der umstrittene Putin-Verehrer und Propagandist Kyrill, der damit nichts weniger forderte als eine Rückkehr zur Frömmigkeit der Gotik - und wohl auch zum Machtanspruch der Kirche.

"Zeit bringt immer neue Bedrohungen"

Jetzt ergänzte der Sozialforscher Maxim Trudoljubow diese skurrile Argumentation mit einem aufschlussreichen Essay zur psychischen und weltanschaulichen Verfassung des Kreml-Regimes. Demnach fürchtet der Kreis um Putin die Zukunft und klammert sich umso verzweifelter an die Gegenwart. Letztlich halte sich das Regime an die bittere "Lagerlogik", die einst der Schriftsteller und sowjetische Dissident Alexander Solschenizyn ausgerufen hatte: "Du stirbst heute, ich erst morgen."

Bewusst oder unbewusst gehe es Putin und seinen Leuten nur noch darum, den Verfall soweit wie möglich zu bremsen: "Ein tieferer Grund für die Stabilität der russischen Staatsmacht liegt darin, dass es dem Kreml gelungen ist, den Bürgern den Eindruck zu vermitteln, dass der Lauf der Zeit immer neue Bedrohungen mit sich bringt. Putins wahre Anhänger unterstützen ihn nicht so sehr als Person, sondern klammern sich vielmehr an die Gegenwart mit ihren schwindenden Möglichkeiten. Sie befürworten – vielleicht ohne es zu merken – einen langsamen Niedergang, aus Angst vor einem schnellen."

Geistiger Hintergrund dafür sei das Festhalten an "traditionellen Werten", die letztlich den Prinzipien der europäischen Aufklärung entgegen stünden. Seit dem 18. Jahrhundert glaube der Westen mit den französischen Philosophen an den Fortschritt, hoffe darauf, dass die Welt durch Vernunft stetig besser werde. Doch zuvor, also bis zum Zeitalter des Barock, habe eher ein "zyklisches Denken" vorgeherrscht, wonach sich Aufstieg und Fall stets abwechseln, die Welt also nicht grundsätzlich und dauerhaft "besser" werde.

"Jedes weitere Metall erwies sich als härter"

Grundlage für dieses Denken sei das antike Christentum gewesen: "Die Vergangenheit war hell und die Zukunft dunkel. Die von Gott sofort in perfekter und vollendeter Form geschaffene Welt wurde mit der Zeit nur immer schlimmer. Der Mensch verlor von Epoche zu Epoche seine ursprüngliche Unschuld und Teilhabe an der göttlichen Lebensweise. Dies wurde in der Bibel durch die Geschichte der Vertreibung aus dem Paradies gezeigt. In der Mythologie zum Beispiel durch eine Geschichte über den Wandel der Epochen, der durch verschiedene Metalle symbolisiert wird: zuerst das goldene Zeitalter, dann das silberne, gefolgt vom bronzenen und eisernen. Jedes weitere Metall erwies sich als weniger wertvoll, aber härter." In diesem Sinne stelle Putins "Quasi-Ideologie" eine Rückkehr zu (sehr fernen) "traditionellen Werten" dar.

"Dunkle mystische Sicht"

Maxim Trudoljubow, früher Chefkolumnist der russischen Wirtschaftszeitung "Wedomosti", verweist auf geistige Vorbilder der Endzeit-Erwartung wie den Apostel Paulus und den deutschen Philosophen Carl Schmitt, dem eine besondere Nähe zum Nationalsozialismus nachgesagt wurde: "Ob die derzeitigen russischen Machthaber diese dunkle mystische Sicht auf die politische Realität teilen oder nicht, ist nicht so wichtig, aber sie setzen sie durch ihr Handeln in die Praxis um. Die Rolle der 'hellen Vergangenheit' wird in ihrer Rhetorik je nach Publikum entweder vom Russischen Zarenreich oder von der Sowjetunion gespielt. Und die 'dunkle Zukunft' beinhaltet die Gefahr einer Krise, des Zusammenbruchs des Landes oder seiner Eroberung durch Feinde."

Im Übrigen dominiere in Russland die Staatswirtschaft, knapp vierzig Prozent der 75 Millionen Beschäftigten sei direkt im öffentlichen Dienst oder bei staatlichen Unternehmen tätig. Dort gebe es am meisten zu holen, nicht zuletzt, weil Putin nichts gegen die grassierende Korruption unternehme: "Aufgrund der wachsenden technologischen Rückständigkeit werden die Arbeiter russischer Unternehmen immer weniger konkurrenzfähig und werden sich weder beeilen, das Land zu verlassen noch gegen den Status quo, also gegen den Krieg, zu protestieren."

"Vergessen Sie alle Fremdsprachen"

Zu Truboljudows Thesen passen die permanenten Drohungen des Kremls vor dem nationalen Untergang. Putin selbst hatte bei der jährlichen Siegesparade am 9. Mai auf dem Roten Platz gesagt: "Wir sind den Geboten unserer Vorfahren treu und verstehen zutiefst und klar, was es bedeutet, auf der Höhe ihres Militärs, ihrer Arbeit, ihrer Moral und ihrer Errungenschaften zu sein." Nichts weniger als die "Staatlichkeit" Russlands hänge vom Krieg ab. In der Propaganda heißt es daher ständig, die NATO werde Russland "zerstückeln", wenn die Ukraine gewinne.

Laut Putin sind "Harmonie und Einheit" Russlands wichtigste Werte, was eher zu vormodernen Vorstellungen passt. Neuerdings inszeniert sich der Präsident gar als "Kirchenbauer" und erkundigt sich nach den Bauarbeiten für Synagogen, Moscheen und Kathedralen. Auch die "Volkstraditionen" fehlen in kaum einer Rede des Präsidenten. Diese bizarre Orientierung an der Vergangenheit und der propagandistische Missbrauch religiöser Sinnbilder verleitete kürzlich den russischen Modehistoriker Alexander Wassiljew, bei einem TV-Interview zu fordern, alle "echten" Patrioten mögen doch bitte Bastschuhe und russische Trachtenhemden tragen und in den Ural umziehen, statt sich in Jeans an der französischen Riviera herumzutreiben: "Vergessen Sie alle Fremdsprachen, das ist unpatriotisch."

"Atomwaffen metaphysisch gerechtfertigt"

Der Ex-Präsident Dmitri Medwedew drohte kürzlich: "Ist die Gefahr eines Atomkonflikts vorüber? Nein, sie ist nicht vergangen. Sie ist gewachsen. Jeder Tag der Lieferung ausländischer Waffen an die Ukraine bringt letztendlich die nukleare Apokalypse näher."

Ähnlich formuliert es der im Kreml gern gesehene Ultranationalist und Philosoph Alexander Dugin: "Der Beginn der Spezialoperation war, was auch immer die unmittelbaren Gründe dafür waren, der letzte Kampf um die Souveränität und die historische Existenz Russlands. Daher sind sofortige patriotische Reformen und eine vollständige Mobilisierung der Macht und der Gesellschaft erforderlich. Und aus Sicht dieser Partei ist der Einsatz von Atomwaffen aufgrund der Ernsthaftigkeit der Bedrohung für Russland, insbesondere im Falle eines negativen Szenarios für die weitere Entwicklung der Feindseligkeiten, metaphysisch gerechtfertigt und keineswegs ein Bluff."

Allerdings schränkt Dugin ein, dass diese Ansicht in der "Elite noch nicht dominant" sei. Vielmehr gebe es eine ausgeprägte Sehnsucht nach der Vergangenheit: "Einige kürzlich veröffentlichte private Gespräche einer Reihe von Elitepersönlichkeiten beschreiben deutlich die Stimmung dieser Gruppe – sie glauben nicht an den Sieg, sie verfluchen die Spezialoperation, trauern unter Tränen den alten Vorkriegszeiten nach und sind bereit, fast alle Bedingungen dafür zu akzeptieren, den Konflikt beenden.

Zukunftsangst ist begründet

Objektiv betrachtet hat Russland tatsächlich einige nachvollziehbare Gründe, sich vor der Zukunft zu fürchten: Die Geburtenrate schrumpft dramatisch, die klimaschädlichen fossilen Energiequellen dürften in den kommenden Jahrzehnten weltweit immer weniger Abnehmer finden, einstige treue Bundesgenossen in Zentralasien orientieren sich wahlweise an den Großmächten China und den USA, von denen sie sich wirtschaftliche und politische Vorteile erhoffen. So gesehen muss Moskau ganz unabhängig vom Angriffskrieg um seinen internationalen Einfluss fürchten: Mit Bündnispartnern wie dem Iran, Nordkorea und Nicaragua dürfte das nicht funktionieren, und die "Entwicklungshilfe" in Afrika und Syrien mit der "Wagner"-Söldnertruppe ist ebenfalls äußerst fragwürdig.

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