Masha Gessen, russisch-amerikanische Journalistin, ist zu Gast auf der Leipziger Buchmesse.
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Masha Gessen, russisch-amerikanische Journalistin, ist zu Gast auf der Leipziger Buchmesse.

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USA: Eskalation im Streit um russische Schriftsteller

Die Publizistin Masha Gessen ist in dieser Woche von ihrem Amt als Vizepräsidentin des Schriftstellerverbandes PEN Amerika zurückgetreten. Zuvor war ihre Gesprächsrunde mit russischen Dissidenten auf Druck von ukrainischen Autoren abgesagt worden.

Über dieses Thema berichtet: kulturWelt am .

Weil ukrainische Schriftsteller protestiert hatten, war eine Diskussionsrunde mit russischen Schriftstellern beim Beim World Voices Festival abgesagt worden. Die Entscheidung hat in den USA zu einer hitzigen Debatte über Meinungsfreiheit geführt. Und zu einem prominenten Rücktritt: Die Vizepräsidentin des Schriftstellerverbandes PEN Amerika legte ihr Amt nieder.

Es war ein Schritt, der einem Paukenschlag gleichkam: Sie wolle nicht in eine Entscheidung involviert sein, die sie für falsch erachte, begründete Masha Gessen ihre Entscheidung, von der Vizepräsidentschaft des Schriftstellerverbandes PEN Amerika zurückzutreten. Der Verband hätte nicht tolerieren dürfen, dass Teilnehmer des von PEN Amerika organisierten World Voices Festival nicht sprechen dürfen, "weil jemand anderes das nicht will".

Masha Gessen sollte die Veranstaltung "Flucht aus der Tyrannei: Schreiben im Exil" mit dem russischen Schriftsteller und Historiker Ilja Wenjawkin und der Journalistin Anna Nemzer vom oppositionellen Fernsehsender Doschd moderieren. Beide Gesprächspartner hatten Russland unmittelbar nach dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine verlassen.

Auch eingeladen waren die ukrainischen Schriftsteller Artem Chapeye und Artem Tschech sowie dessen Frau, die Filmemacherin Irina Tsilyk. Die beiden Schriftsteller erhoben Einspruch gegen das russische Podium, das offenbar erst später ins Programm aufgenommen worden war, und verweigerten ihre Teilnahme am Festival. Beide dienen zurzeit in der ukrainischen Armee. Die Exekutivdirektorin von PEN Ukraine Tetyana Teren erklärte, es sei den amerikanischen Organisatoren wichtig gewesen, Militärs das Wort zu erteilen. Auch beim Literaturfest München im November 2022 hatten Artem Chapeye und Artem Tschech ihren Auftritt.

Ein Verteidigungskampf im Feld der Kultur

Die Organisatoren boten daraufhin an, Masha Gessens Veranstaltung auszulagern – die Publizistin lehnte ab. In ihrem Statement schreibt sie: "Ich hatte den Eindruck, dass ich ihnen sagen sollte, dass sie nicht am großen Tisch sitzen dürfen, weil sie Russen sind. Sie müssten an den Katzentisch. Das fühlte sich geschmacklos an."

Gleichzeitig betonte sie, dass sie sich nicht gegen die Forderungen von Artem Tschech und Artem Chapeye stelle – Kiew führe einen Verteidigungskrieg mit allen Mitteln. Ihr Problem sei die Reaktion des PEN. Es gehe um einen Verrat an seinen eigenen Prinzipien. Die Schriftstellervereinigung setzt sich für den Schutz und die Freiheit der Kultur ein.

Der Streit schlug hohe Wellen. In den USA wird heftig über Meinungsfreiheit und Erpressung diskutiert. PEN Ukraine indes schickte eine Erklärung mit der Botschaft: "Wir sind der Meinung, dass es ein Verrat am Andenken derer wäre, die von der russischen Armee sinnlos getötet wurden, wenn wir den kulturellen Raum mit Russen während des Krieges teilen."

Wer definiert Russisch-Sein?

Unklar ist jedoch, wer "Russe" ist – muss man in Russland geboren sein, geht es um den russischen Pass oder reicht es, russisch zu schreiben und zu sprechen? Die 1975 in Dnipro in der Sowjetukraine geborene Dichterin Linor Goralik durfte jedenfalls beim Literaturfestival in Tartu wegen des Einspruchs zweier ukrainischer Dichterinnen nicht auftreten. Linor Goralik war aus Israel angereist, wo sie seit 2014 lebt. Sie schreibt weiterhin auf Russisch und gibt seit April 2022 das online-Magazin "Russian Oppositional Arts Review" heraus – kurz "ROAR". Die ukrainische Dichterin Olena Huseinowa wirft der Plattform vor, "Russischsprachige" zu schützen und sich mit "ein paar ukrainischen Nachnamen" zu schmücken.

Grundsätzlich stehen alle exilierten russischen Intellektuellen und Künstler unter ukrainischem Generalverdacht. Sie hätten, so die weitverbreitete Meinung, ihre "Arbeit" nicht erledigt, nämlich die Aufarbeitung russischer imperialer Gewaltgeschichte. Auch hätten sie in Russland bleiben müssen, um das Regime zu bekämpfen. Schließlich, so die Logik, bezahlten auch viele Ukrainer ihren Befreiungskampf mit dem Leben. Eine Argumentation, die nicht berücksichtigt, dass oppositionelle Russen in der Minderheit sind, bisweilen tatsächlich massiven Widerstand leisten, aber selbst auch enormem Druck ausgesetzt sind.

Scharfe Trennung, unklare Trennlinien

Die scharfe Trennlinie, die von Ukrainern zu Russen in der Kultur eingefordert und verbal heftig verteidigt wird, gilt in der ukrainischen Armee nicht. Der russische Künstler und Aktivist Petr Wersilow kämpft auf Seiten der Ukrainer in Bachmut. Sein Kommandeur ist ebenfalls Russe: Generaloberst Oleksandr Syrskyj wurde 1965 in Wladimir bei Moskau geboren und schloss 1982 die Moskauer Höhere Militärkommandoschule ab. Syrskyj hatte die Offensive der ukrainischen Armee bei Charkiw erfolgreich angeführt und eine tragende Rolle bei der Verteidigung der ukrainischen Hauptstadt zu Beginn des Krieges gespielt. Dafür wurde ihm die höchste Auszeichnung "Held der Ukraine" verliehen.

Der Krieg verlangt Einheit und Eindeutigkeit. Kultur basiert indes auf Vielstimmigkeit, anders verstummt sie.

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