Das Kirchenoberhaupt breitet die Arme zur Begrüßung aus
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Patriarch Kyrill in Kasan

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"Gefährliche Wende": Russlands Patriarch preist das Mittelalter

Das irritiert sogar Propagandisten: Putins oberster Kirchenmann forderte allen Ernstes, die Errungenschaften der Renaissance rückgängig zu machen: Er nannte die letzten 500 Jahre einen "tragischen Trend in der Entwicklung der Zivilisation".

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

"Ich habe schlechte Nachrichten für alle: In Russland endete die Ära der Wissenschaft und es begann das Zeitalter der Magie", sagte kürzlich der russische Kunstkritiker Slawa Schwets, nachdem Putin eine besonders wertvolle Ikone gegen den Rat der Experten aus der staatlichen Tretjakow-Galerie an die russisch-orthodoxe Kirche zurückgegeben hatte. Das Kunstwerk aus dem 15. Jahrhundert ist äußerst empfindlich, Restauratoren fürchten das Schlimmste, falls die Pretiose tatsächlich auf Dauer in einem Kirchenraum ausgestellt wird. Jetzt bestätigte kein Geringerer als Patriarch Kyrill persönlich, dass die "Ära der Wissenschaft" in Russland nach Meinung der Kirche tatsächlich enden sollte.

"Zum Himmel gerichtete Türme"

In einer Grundsatzrede in Kasan beim Treffen der Russisch-Islamischen Weltstrategischen Planungsgruppe setzte selbst der umstrittene Kirchenführer neue Maßstäbe, was seine Gegnerschaft zu westlichen Werten betrifft. Er forderte nichts weniger als die Renaissance rückgängig zu machen, also den Aufbruch in die Neuzeit vor rund 500 Jahren: "In der weltlichen Geschichtswissenschaft wird die Renaissance als positives Phänomen wahrgenommen, tatsächlich war sie jedoch eine sehr gefährliche Wende in der Entwicklung der westlichen Zivilisation. Im Mittelalter stand Gott im Mittelpunkt des menschlichen Lebens. Wahrscheinlich sind viele von Ihnen schon mal nach Westeuropa gereist und haben dort die riesigen romanischen und gotischen Kathedralen gesehen, die die Architektur mittelalterlicher Städte dominierten. Und das ist kein Zufall! Die majestätischsten Gebäude waren Kirchen, und das bezeugte, dass der Glaube an Gott im Mittelpunkt des Lebens der Menschen steht. Die gotische Architektur selbst, diese zum Himmel gerichteten Türme, zeugten von der Dynamik der Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit, dass das Ziel Gott ist, dass alles auf Gott zusteuert."

Die "sogenannte Renaissance" habe dagegen das "Heidentum wiederbelebt", anstelle "gotischer Kathedralen wurden Tempel errichtet, die an antike Gebäude erinnerten". Kyrill beschwor die Gemeinsamkeit seiner orthodoxen Kirche mit dem Islam: "Die größte Provokation des 21. Jahrhunderts ist die Herausforderung durch die gottlose säkulare Welt. Aber heute können wir Christen und Muslime, ausgehend von unseren religiösen Überzeugungen, gemeinsam diesem tragischen Trend in der Entwicklung der Zivilisation widerstehen, der Gott aus dem menschlichen Leben verdrängt und eine andere Weltanschauung auferlegt, in der es keinen Gott gibt, so wie sie es in der Renaissance versucht haben durchzusetzen." Damit geht der Patriarch noch deutlich hinter die Aufklärung des 18. Jahrhunderts zurück und fordert unverblümt, sich am Mittelalter zu orientieren.

"Weltweiter Kult der Sünde"

"Um dieser Herausforderung zu begegnen, brauchen wir die Konsolidierung aller traditionellen Kräfte der Gesellschaft. Wenn wir nicht den Sieg des Bösen und die Etablierung eines weltweiten Kults der Sünde und des Egoismus wollen, müssen wir dieser Herausforderung eine spirituelle Zurückweisung erteilen", so Kyrill zur Verwunderung russischer Propagandisten, die von einer "seltsamen" Stellungnahme sprachen. Der Patriarch wetterte gegen die "Propaganda des Individualismus und der menschlichen Verehrung", bei der der Mensch das "Maß aller Dinge" sei und das Recht beanspruche, seine Gesetze selbst zu machen. Das zielte auf Künstler wie Albrecht Dürer und Leonardo da Vinci, die erklärtermaßen den Menschen in den Mittelpunkt ihres Schaffens und ihres Forschungsdrangs stellten. Dass Kyrill abermals gegen die angeblich "gefährlichste, destruktive LGBT-Ideologie" wütete, versteht sich von selbst.

Nebenbei watschte Kyrill den Kommunismus und den russischen Klassiker Maxim Gorki ab, der in seinem Drama "Nachtasyl" geschrieben hatte: "Alles ist im Menschen, alles ist für den Menschen! Es besteht nur der Mensch; alles übrige ist das Werk seiner Hände und seines Gehirns! Der Mensch! Das ist groß! Das klingt… stolz! Der Mensch!" Diese Aussage hielt der Patriarch für "sehr seltsam", was seinem offiziellen Redemanuskript übrigens nicht zu entnehmen war, sondern von anwesenden Journalisten kolportiert wurde.

"Nur im Heidentum gibt es starke Amulette"

Kunstexperte Schwets erklärte, dass Russland seiner Meinung nach auf dem Weg in ein vormodernes "magisches Denken" sei: Der vermeintlich "heilige Gehalt" eines Kunstwerks werde wieder wichtiger als der künstlerische Wert. Russland sei nicht länger ein "säkularer Staat", obendrein werde das zweite Gebot aus dem Alten Testament verletzt: "Du sollst dir kein Kultbild machen und keine Gestalt von irgendetwas am Himmel droben, auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde." Die aktuelle Entwicklung erinnere eher an Talismane aus der Antike: "Nur im Heidentum gibt es starke und schwache Amulette."

Putins abermalige "Wohltat" für die Kirche werde schlimme Konsequenzen haben: "Das bedeutet nun, dass einige Leute, nicht nur aus der russisch-orthodoxen Kirche, jedes beliebige Objekt aus jedem Museum verlangen können, und wenn eine Person über genügend Macht verfügt, wird es aus dem Museum entfernt."

"Monopolanspruch auf Wunder"

Ähnlich hieß es in einem Kommentar der russischsprachigen "Moscow Times", die Übergabe der Ikone an die Kirche sei nichts weiter als ein "Machtbeweis", denn der Patriarch persönlich sei gar nicht abergläubisch, sondern habe nur einen "Monopolanspruch auf die Vollbringung von Wundern" durchsetzen wollen. Konkret habe sich Putin erkenntlich gezeigt für "die bedingungslose Unterstützung des Krieges durch die Kirche, all diese produzierten Grabkerzen und das Weben von Tarnnetzen in Pfarreien, die Verteilung roter Banner mit dem Bild des Erlösers unter Militäreinheiten im Donbass , prächtige Trauergottesdienste für die toten Militärkorrespondenten, religiöse Prozessionen mit St.-Georgs-Bändern".

Gerüchte um Zerwürfnis mit Putin

Gleichwohl hieß es in russischen Blogs gerüchteweise, der Patriarch spreche privat "mit ihm nahestehenden Personen" nicht gut von Putin, sondern kreide dem Präsidenten seinen Hang zu "Schamanen" an. "Wenn es einen Gott gibt, wird Wladimir für immer in der Hölle schmoren, da werden ihm keine Ikonen helfen", soll Kyrill gewütet haben. Putin habe von den abträglichen Bemerkungen erfahren und bereits über eine Ablösung des Kirchenmanns nachgedacht. Wie auch immer: Die Sehnsucht nach Magie mag im Kreml vom einen oder anderen geteilt werden - das Mittelalter dürfte sich dort allerdings niemand ernsthaft zurückwünschen.

"Er flog mit einer Boeing"

In russischen Netzforen herrscht an Hohn und Spott kein Mangel: " Jeder zahlte Abgaben, die Kirche hatte ihr eigenes Land und ihre eigenen Leibeigenen", hieß es da mit Bezug auf das Mittelalter. "Im gottlosen Internet trafen sich noch keine Ketzer, und nur wenige Menschen wussten, wie man Bücher liest", meinte ein weiterer Nutzer. "Das Feudalsystem ist sein Traum und Wahrzeichen. Damit die Knechte ihm als Tribut Getreide, Vieh, Geld, Autos, Immobilien usw. bringen", vermutete ein Kommentator.

Jemand höhnte: "Die Renaissance und ihre Bedeutung zu leugnen, ist so, als würde man sich wünschen, die Menschheit käme niemals aus dem düsteren Mittelalter heraus, es ist wie der Wunsch nach ewiger Inquisition. Für Meinungsverschiedenheiten, die auf dem Scheiterhaufen gelöst werden. Ist es das, was der Patriarch will?" Auch eine historische Parallele wurde genannt: "Nach der Renaissance kam in Italien die Ära der Reaktion. Leonardo Da Vinci wanderte aus, Giordano Bruno wurde verbrannt, Galileo Galilei musste Buße tun und der Theorie des Kopernikus [von der Sonne als Mittelpunkt des Planetensystems] abschwören."

Und praktisch Denkende schrieben: "Im Mittelalter wäre der Patriarch zwei Wochen lang mit einem Karren von Moskau aus nach Kasan gereist, aber jetzt flog er in einer Stunde mit einer Boeing." Ebenfalls beachtlich folgende Reaktion: "Auch in Russland gab es eine Renaissance, aber später, unter Zar Peter I. So ist St. Petersburg im Allgemeinen Renaissance in ihrer reinsten Form, was soll jetzt abgerissen werden?"

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