Vorbereitung eines Drohnenangriffs
Bildrechte: Vincenzo Circosta/Picture Alliance

Südlich von Bachmut: Ukrainischer Soldat

Artikel mit Audio-InhaltenAudiobeitrag

"Bachmut ist nicht Berlin": So kämpft Russland mit sich selbst

Selten verhielten sich Putins Propagandisten so paradox wie in diesen Tagen: Einerseits jubeln sie über einen angeblichen Erfolg in Bachmut, andererseits fürchten sie die ukrainische Gegenoffensive. Fazit der Blogs: "Die wahre Lage schockiert viele."

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Die einstige ukrainische Kleinstadt Bachmut ist nur noch ein Trümmerhaufen, aber der russische Blogger Alexander Simonow konnte aus erster Hand berichten, dass in einer ehemaligen Sektkellerei sechs Millionen Flaschen unversehrt geblieben seien: "Ich machte einen Rundgang durch die Lagerhallen. Die Größe ist beeindruckend. Die Wagner-Söldner haben dort völlige Ordnung bewahrt, alles ist, wie es war. Auch die Ausstattung ist vollständig. Wenn die [ukrainischen] Eigentümer Interesse haben sollten, lasst sie kommen, es gehört alles ihnen."

Wagner will zwei Monate nichts mehr "stürmen"

Neben dieser skurrilen Meldung dominieren allerdings in der aktuellen Propaganda eher die paradoxen Nachrichten, um nicht zu sagen die absurden. So bekräftigte Söldnerführer Jewgeni Priogschin unmittelbar nach seiner Behauptung, Bachmut vollständig eingenommen zu haben seine Ankündigung, die Privatarmee von der Front abzuziehen und mindestens vier Wochen in Urlaub zu schicken. Ab 1. Juni werde es keine Söldner mehr in Bachmut geben. Er beeilte sich auch Gerüchte zu zerstreuen, seine Leute würden westlich der Stadt unverdrossen weiter angreifen: "Wir stehen nicht mehr im Kampf, bis wir eine Umstrukturierung, Aufrüstung und Ausbildung durchlaufen haben. Daher werden alle Behauptungen, dass Wagner etwas stürmt, in den nächsten zwei Monaten Fälschungen sein. Wenn sich etwas ändert, werde ich es Sie wissen lassen."

Gleichzeitig beschimpfte Prigoschin das russische Staatsfernsehen, das nur sehr zögerlich über seinen vermeintlichen "Triumph" in Bachmut berichtete: "Es ist offenbar sehr schwierig, abweichender Meinung zu sein, wenn man weiß, dass es in jedem Generalbüro immer einen Fernseher gibt und fast jeder rund um die Uhr läuft. Bei manchen Generälen immer mit rosa Rand, sonst flucht der General. Nun, auch andere Beamte wollen immer nur ein schönes Bild sehen. Daher der Feenstaub in den Augen und Ohren des ganzen Landes. Der Fernseher zeigt, was wichtige Menschen sehen wollen, und nicht, was tatsächlich da ist. Sehr selten schaffen es Fernsehsendungen on air, bei denen das gezeigte Bild der Realität nahe kommt."

Vergiftete Glückwünsche an Verteidigungsminister

Als ob dieser Spott nicht reichte, ließ es sich Prigoschin nicht nehmen, dem russischen Verteidigungsminister Sergej Schoigu zu dessen 68. Geburtstag zu "gratulieren", allerdings mit zweifelhaften Formulierungen: "Sie sind ein außergewöhnlicher Mensch: Nachdem Sie Elektriker und Bauunternehmer geworden waren, haben Sie sich nicht nur der Arbeit verschrieben, sondern auch viel Zeit in die Entwicklung Ihrer vielen Talente investiert. Nur wenige Menschen vereinen die Fähigkeiten eines anspruchsvollen Ästheten, Grafikers, Holzschnitzers, Jägers, Hockeyliebhabers, fürsorglichen Vaters und Schwiegervaters. Wir hoffen, dass Sie auch weiterhin andere mit Ihrem glücklichen Lächeln erfreuen!" Die künstlerische Ader von Schoigu, der seine Skulpturen und sibirischen Landschaftsbilder auch schon öffentlich ausstellte, nervt den Söldnerchef seit langem.

"Frontalangriffe mit unverständlichem Ergebnis"

Russische Blogger zittern bereits um das weitere Schicksal des zwielichtigen Kriegsunternehmers: "Prigoschin durchschaute das Wesen der Macht, insbesondere ihre Hochburg – die Bürokratie. Wir erwarten, dass er dafür zum Schweigen gebracht wird. Die Regierung verzeiht das nicht." Andere bescheinigten Prigoschin nur rhetorischen "Mist", wieder andere, vor allem in der Ukraine, glauben ihm kein Wort, dass er wirklich "Urlaub" machen will.

Manche verwiesen darauf, dass der Söldnerchef, was Bachmut angeht, rein PR-orientiert sei: "Es sieht so aus, als hätte Prigoschin beschlossen, sich daraus eine Art Sport zu machen und sich weiter dafür aufzureiben. Darüber hinaus hat das Verteidigungsministerium fast keinen Einfluss mehr auf ihn, sie haben versucht, auf die Bremse zu treten, aber seine Prahlerei ist kostbarer als Geld. Es wird das Maximum rausgeholt, um mehr Söldner anzulocken, um diese monatelangen Frontalangriffe mit unverständlichem Ergebnis fortsetzen zu können."

"Nein, das durfte nicht sein"

Das alles lässt darauf schließen, dass ungeachtet der behaupteten Eroberung von Bachmut der lautstarke Streit innerhalb der russischen Sicherheitskräfte unvermindert weitergehen wird. So hatte einer der russischen Fernsehkanäle über die Söldner gemutmaßt: "Wahrscheinlich haben sie die gleichen Gefühle wie ihre Großväter in Berlin [bei der Erstürmung des Reichstagsgebäudes 1945]."

Soviel Pathos stieß umgehend auf den entschiedenen Widerspruch von Bloggern: "Bachmut ist nicht Berlin, und dessen Fall markiert nicht das Ende des Krieges", schimpfte Alexander Chodakowski (600.000 Fans). Er warnte seine Landsleute. "Beseelt vom ersten Schwung der Offensive wollten wir die Erschöpfung unseres Angriffspotentials nicht rechtzeitig erkennen und kümmerten uns nicht um die ordnungsgemäße Verteidigung an gefährdeten Frontabschnitten. Wie können sie uns schlagen? Nein, das durfte nicht sein – wir sind hier die Großen, wir sind die Gewinner. Und als die Erkenntnis über den wahren Stand der Dinge kam, schockierte das viele." Russland habe derzeit nur noch einen "Verbündeten", und zwar die Zeit.

"Kampf war irrational"

Der kremlnahe Politologe Sergej Markow jubelte zunächst geradezu ausgelassen über einen vom Kreml ausgerufenen Erfolg in Bachmut, um dann eher paradoxe Thesen zu verbreiten: "Die Schlacht von Bachmut ist keine Schlacht um die Stadt, sondern eine Schlacht um strategische Ressourcen. Beide Seiten gewannen die strategischen Ressourcen, die sie brauchten. Daher betrachten sowohl Russland als auch die Ukraine Bachmut als ihren Sieg." Markow nannte die Propaganda um Bachmut "irrational" und hatte dafür eine verblüffende Erklärung: "Der Kampf selbst war irrational. Die meisten können nicht verstehen, warum es einen solchen Kampf um Bachmut gab?"

Ein Blogger wie der gut informierte Boris Rozhin meldete unterdessen schwere Kämpfe nördlich und südlich der zerfurchten ukrainischen Kleinstadt: "Mit dem Aufräumen von Leichen ist eine Menge Drecksarbeit verbunden, darunter auch das Beseitigen von Leichen, die aus den Ruinen von Hochhäusern hervorgeholt werden müssen. Davon wird es viele geben." Im Übrigen nannte er einen Risikofaktor, der verhindern könnte, dass Prigoschins Söldner sich wieder an der Front blicken lassen: "Ich bin sicher, dass wir Wagner wieder in einem der Schlüsselsektoren der Spezialoperation sehen werden, wo ihre Erfahrung und ihr Können gefragt sein werden, wenn die geharnischten Konflikte zwischen Prigoschin und der Führung des Verteidigungsministeriums nicht dazwischenkommen."

Wer hat wen mehr erschöpft?

Selbst die betont kremlhörige Nachrichtenagentur RIA Nowosti zog eine historische Parallele zwischen der blutigen Schlacht um Verdun 1916 und dem jetzigen Ringen um das strategisch unwichtige Bachmut: "Im militärischen Sinne bestand die Idee unserer strategischen Gegner darin, die russischen Kämpfer im Angriff zu zermalmen und Bachmut in Verdun zu verwandeln. Wir erinnern uns, dass Verdun in der Zeit des Ersten Weltkriegs eine französische Festung war, bei deren erfolglosen Erstürmungsversuchen die Deutschen ihr gesamtes Kampfpotential ausschöpften."

Dass Bachmut "alle Rekorde der Sinnlosigkeit" eingestellt habe, war auch in Blogs zu lesen. Es sei bemerkenswert, dass in der Stadt Moskau der Sieg einer örtlichen Fußballmannschaft mehr gefeiert worden sei als der angebliche Erfolg an der Front.

Das russischsprachige Exilportal "Meduza" fasste die Lage um Bachmut so zusammen: "Wer wen im Kampf um Bachmut mehr 'erschöpft' und 'ausgelaugt' hat, ist eine offene Frage. Nun scheint es, dass die Streitkräfte der Ukraine bei der Verteidigung der Stadt sehr schwere Verluste erlitten haben, während ein erheblicher Teil des Wagner-Personals aus Gefangenen rekrutiert wurde, die am Ende ihrer Vertragslaufzeiten ohnehin das Schlachtfeld verlassen hätten. Die russische Armee spielte bis vor wenigen Wochen nur eine unterstützende Rolle rund um Bachmut und erlitt hier (wiederum bis vor kurzem) keine nennenswerten Verluste. Andererseits verlor Wagner aufgrund der Ergebnisse der Schlacht für einige Zeit seine Angriffsfähigkeit."

"Wir werden keine Lieder über den Krieg haben"

Eine interessante, wenn auch höchst anfechtbare These zu den teils widersinnigen und merkwürdig bangen Botschaften der russischen Propagandisten steuerte der mittlerweile in Israel lebende russische Putin-Gegner Leonid Gosman zur Debatte bei. Er schrieb in der im Ausland erscheinenden "Novaya Gazeta", die kremlnahen Blogger wüssten insgeheim, dass sie auf der falschen Seite der Geschichte stünden.

Deshalb werde Putins Krieg bisher auch nicht in vaterländischen Liedern und Hymnen besungen, wie einst Stalin im Zweiten Weltkrieg: "Wir werden solche Lieder über den aktuellen Krieg nicht mehr haben. Und das nicht, weil es nicht genügend Autoren gäbe, sondern weil wir heute selbst Hitleristen sind und der russische Staat nichts anderes als ein Musikvideo mit diesem elenden Schamanen [Popsänger Jaroslaw Dronow] erstellen kann. Und die Ukrainer haben schon viele wunderbare Lieder über diesen Krieg, also über die Menschen in diesem Krieg, und es werden noch mehr sein."

Bei Putins Bloggern schleiche sich ein "Gefühl der Unausweichlichkeit der Niederlage" ein, verstärkt von der "Angst, die jetzt in die TV-Programme einbricht, zu hysterischen Rufen, endlich etwas zu tun": "Hier geht es nicht um die Kampfkraft der vom Westen gelieferten Waffen, nicht um die veraltete Qualität und die Knappheit unserer Waffen, sondern um das Verständnis, dass die Stärke hinter demjenigen steht, der die Wahrheit besitzt."

"Hier ist Bayern": Der BR24 Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht’s zur Anmeldung!