Hunderte Helfer versuchen am 3.6.1998 im Wrack des verunglückten ICE 884 bei Eschede, Opfer des Zugunglücks zu bergen.
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Hunderte Helfer versuchen am 3.6.1998 im Wrack des verunglückten ICE 884 bei Eschede, Opfer des Zugunglücks zu bergen.

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Wie eine Gehörlose das Zugunglück von Eschede erlebte

101 Menschen sind vor 25 Jahren in Eschede beim bisher schwersten Zugunfall Deutschlands gestorben. 105 Personen haben überlebt, auch die gehörlose Sylvia Dehler aus Kulmbach. Es war ihre erste Fahrt in einem ICE - und für lange Zeit letzte.

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Mittlerweile kann sie wieder mit dem ICE fahren. Doch dafür hat sie Hilfe benötigt - und viel Zeit. Denn vor 25 Jahren saß Sylvia Dehler in einem der Waggons, als das schlimmste Zugunglück in der Nachkriegszeit in Deutschland passierte. 101 Menschen starben damals in Eschede. "Nach dem Ereignis hatte ich beschlossen, nie wieder mit einem ICE oder einem anderen Zug zu fahren. Nie wieder."

Die erste Zugfahrt - Beginn eines Alptraums

Am 3. Juni 1998 startet der ICE 884 von München in Richtung Hamburg. Sylvia Dehler steigt am frühen Morgen in Hof in einen Zug, um in Würzburg gegen halb neun mit dem ICE weiterzufahren - die erste Fahrt ihres Lebens mit dem Schnellzug. "Ich bin zuvor noch nie mit einem ICE gefahren, bis zu diesem Tag", erzählt sie.

Wagen Nummer 6, dort sitzt Sylvia Dehler im Zug. Ihr gegenüber: Eine Mutter mit einem Kind. Rechts von ihr: eine andere Mutter mit ihren zwei Kindern. Weil es ihre erste Fahrt mit dem ICE ist, ist Sylvia Dehler neugierig. Sie läuft bis zum Speisewaggon und gönnt sich dort ein Frühstück.

Als sie wieder zurück am Platz sitzt, sieht sie wie sich beide Mütter plötzlich ganz erschrocken ansehen. Sylvia Dehler selbst ist gehörlos: "Was es war, bekam ich nicht mit." Nach dem Unglück berichten Überlebende, dass sie vor dem Aufprall an der Brücke ein anhaltendes Rumpeln gehört hätten. "Und noch einmal wenige Minuten später sah ich bei der Mutter mir gegenüber, dass sie ihre Augen aufriss. Ich wunderte mich - und dann passierte es."

Eingeklemmt wartet sie auf Hilfe

Der Zug entgleist bei Eschede und rast in eine Brücke – mit 200 Stundenkilometern. "Meine Augen hatte ich offen als der Zug zur Seite kippte," erzählt Sylvia Dehler. Sie wird eingeklemmt, steht unter schwerem Schock – und realisiert erst nicht was passiert ist. "Bis ich herunterschaute und die Frau sah, die mir gegenübersaß. Sie lag mit ihrem Kopf auf meiner Brust. Erst dann begriff ich: Es ist ernst."

Sie denkt an ihren Sohn und weißt nicht, ob sie ihn jemals wieder sehen wird. Sie ruft nach Hilfe, mehrmals. Der linke Arm ist nicht eingeklemmt. An diesem Arm trägt sie ihre Armbanduhr. Es ist 11:04 Uhr. Die Zeit vergeht zu langsam. "Ich wusste, dass fünf Minuten nach dem Unfall nicht sofort Leute da sind." Ihr Fuß schwillt an und schmerzt stark. Um 11:15 schreit sie unter Schmerzen erneut um Hilfe. Aber sie ist immer noch alleine und ohne Hilfe. Sie muss weiter warten.

Erste Hilfe: eine Schmerz-Infusion in den freien Arm

Zehn Minuten später hat Sylvia Dehler Glückt: Wieder ruft sie um Hilfe, diesmal findet eine Person ihre Hand, die sie rausstreckt. Der Mann spricht mit ihr - aber sie hört ihn nicht. "Ich sah das. Aber ich blieb still. Später erfuhr er, dass ich gehörlos bin. Er hatte sich gewundert, dass ich nach Hilfe rief, dann aber schwieg." Sylvia Dehler bekommt über ihren freien Arm schnell eine Infusion gegen die Schmerzen.

Die Bergung ist schwierig

Die eingeklemmte Sylvia Dehler aus dem Zug herauszuholen ist schwierig. Denn die Wagenverkleidung droht auf sie abzustürzen. Mit Kreissägemaschinen versuchen die Helfer sie aus dem zerstörten Wagen zu schneiden. Doch das dauert: Nach 90 Minuten wird sie endlich befreit und kommt mit Verletzungen ins Krankenhaus. Die Frau auf ihrer Brust ist tot. Nur das Kind überlebt.

Die erste Zugfahrt nach der Katastrophe - unter Tränen

16 Tage lang liegt Sylvia Dehler im Krankenhaus. Erst nach ihrer Entlassung verschlechtert sich ihr psychischer Zustand. Auf dem Heimweg hat sie eine Panikattacke, später Alpträume von der Zugfahrt.

Eine Angsttherapie soll ihr helfen. Ziel ist auch, dass sie wieder mit dem Zug fahren kann. Fast ein Jahr nach dem Unglück steigt sie mit einer Psychologin zum ersten Mal wieder in eine Regionalbahn. "Nach der Abfahrt liefen bei mir gleich die Tränen. Ich musste mich die ganze Zeit am Tisch festhalten." Sie schafft es und kann mittlerweile auch wieder mit dem ICE fahren. Und trotzdem kommen mit jeder Zugfahrt die Anspannung und die Erinnerungen von damals wieder hoch.

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